An zwei Armen
Fehlen mir neun Fingerlein!
Lieber Prinz, in deinem Reiche
Wachsen jetzt neun Myrtenzweige,
Und sie sind mein Fleisch und Bein.
Habt Erbarmen,
Schafft mit Armen
Wieder die neun Fingerlein!
Der Prinz und die Eltern waren durch dies traurige Lied sehr gerührt, und der Prinz liess den andern Tag im ganzen Land bekanntmachen, wer ihm die schönsten Myrtenzweige bringe, den wolle er mit seiner königlichen Hand belohnen. Dieses kam auch zu den Ohren der Mordfräulein, welche die arme Myrte so schrecklich gemartert hatten, und sie waren sehr froh darüber; denn sie hatten die neun Finger des Myrtenfräuleins, jede den ihren, in einen Topf mit Erde vergraben, und es waren kleine Myrtensprosse daraus gewachsen. Sie putzten sich sogleich schön an und kamen eine nach der andern mit ihren Myrtenzweigen ins Schloss; denn sie glaubten, die Worte des Prinzen wollten so viel sagen, als er wolle die Überbringerin der schönsten Myrte heuraten. Der Prinz liess ihnen die Myrtenzweige abnehmen und versprach, ihnen seinerzeit Antwort sagen zu lassen; sie möchten sich nur zum Feste vorbereiten. Als er nun alle die neun Zweige neben den grossen Baum gestellt hatte, sprach die Stimme aus dem Baum:
Willkomm, willkomm, neun Zweiglein!
Willkomm, willkomm, neun Fingerlein!
Willkomm, willkomm, mein Fleisch und Bein!
Willkomm, willkomm, zum Topf herein!
Da begrub der Prinz die neun Zweige und die neun Finger unter die Myrte, welche noch denselben Tag die neun Fehlenden Sprossen trieb. Nun aber kam noch das jüngste Fräulein, welches nur die Haarlocke genommen und ihr den Ringfinger gelassen hatte, und warf sich dem Prinzen zu Füssen und sagte: Herr, ich habe keine Myrte und habe auch keine haben wollen, aber diese Locke gebe ich in deine Hand und bitte dich um eine Gnade.“ Der Prinz versprach sie ihr, und sie erzählte ihm, wie die ganze Mordtat geschehen sei, und bat ihn, er möge seinem entflohenen Kammerherrn verzeihen und sie mit demselben vermählen. Da gab ihr der Prinz einen Gnadenbrief für denselben, und sie lief zu ihm in den Wald, wo er sich in einen hohlen Baum versteckt hatte, in den sie ihm täglich zu essen gebracht. Der Kammerherr erfreute sich sehr über sein Glück und kam mit ihr wieder in die Stadt. Als aber der Prinz die Haarlocke auch vergraben hatte, sprach die Myrte:
Nun bin ich ganz
Im alten Glanz;
Bring mir den Kranz
Und führe mich zum Hochzeitstanz!
Da liess der Prinz ein grosses Fest vor allem Volke im Schlossgarten ansagen; da alles versammelt war, ward die Myrte unter einen Thronhimmel gestellt, und der schönste Blumenkranz, mit Gold durchwunden, ward ihr von dem Töpfer und der Töpferin aufgesetzt, und als dies kaum geschehen war, trat das Myrtenfräulein, wie die schönste Braut geschmückt, aus dem Baum hervor und ward von ihren Eltern, welche sie noch nie gesehen hatten, unter Freudentränen und dann von dem glücklichen Prinzen als seine Braut herzlich umarmt. Da standen die neun Mordfräulein wie auf heissen Kohlen; der Prinz aber sprach: „Was verdient der, welcher diesem Myrtenfräulein etwas zuleide tut?“ Und einer sagte da nach dem andern irgendeine harte Strafe her, und als die Frage an die neun Fräulein kam, sagten sie alle zusammen: „Dass ihn die Erde verschlinge und seine Hand aus der Erde wachse“; und kaum hatten sie es gesagt, als die Erde sie auch verschlang und über ihnen Fünffingerkraut hervorwuchs. Nun wurde die Hochzeit gehalten, und der Kammerherr hielt mit dem jüngsten Fräulein auch Hochzeit. Es schenkte dem Prinzen der Himmel auch bald ein kleines Myrtenprinzchen, das ward in der schönen Wiege des alten Töpfers gewiegt, und das ganze Land war froh und glücklich.
Der Myrtenbaum aber ward bald so stark und gross, dass man ihn ins freie Feld setzen musste. Da begehrte die Prinzessin Myrte, dass er bei die ehemalige Hütte ihrer Eltern gesetzt werde; das geschah auch, und die Hütte ward zu einem schönen Landhaus verändert, und endlich ward aus dem Myrtenbaum ein Myrtenwald, und die Enkel des Töpfers und seiner Frau spielten darin, und die beiden guten Leute wurden dort, wie sie gewünscht hatten, unter dem Myrtenbaum begraben. Der Prinz und das Myrtenfräulein ruhen wohl auch schon dort, wenn sie nicht mehr leben sollten, woran ich fast zweifle; denn es ist schon sehr lange her.
Witzenspitzel
Es war einmal ein König von Rundumherum, der hatte unter seinen vielen andern Dienern einen Edelknaben, der hiess Witzenspitzel, und er liebte ihn über alles und überhäufte ihn mit tausend Gnaden und Geschenken, weil Witzenspitzel ungemein klug und artig war und alles, was ihm der König zu verrichten gab, mit ausserordentlicher Geschicklichkeit ausrichtete. Wegen dieser grossen Gunst des Königs waren alle die andern Hofdiener sehr neidisch und bös auf Witzenspitzel;
Denn wurde seine Klugheit belohnt mit Gelde,
So wurde ihre Dummheit bestraft mit Schelte;
Und erhielt Witzenspitzel vom König grossen Dank,
So erhielten sie von ihm grossen Zank;
Kriegte Witzenspitzel einen neuen Rock,
So zerschlug der König auf ihnen einen neuen Stock;
Durfte Witzenspitzel des Königs Hand küssen,
So traktierte der König sie mit Kopfnüssen.
Darüber wurden sie nun gewaltig zornig auf Witzenspitzel und brummten und zischelten den ganzen Tag und steckten überall die Köpfe zusammen und überlegten, wie sie den Witzenspitzel sollten um die Liebe des Königs bringen. Der eine streute Erbsen auf den Thron, damit Witzenspitzel stolpern und den gläsernen Zepter zerbrechen sollte, den er dem König immer reichen musste; der andere nagelte ihm Melonenschalen unter die Schuhe, damit er ausgleiten sollte und dem König den Rock begiessen, wann er ihm die Suppe brachte; der dritte setzte allerlei garstige Mücken in einen Strohhalm und blies sie dem König in die Perücke, wenn Witzenspitzel sie frisierte; der vierte tat wieder etwas anders, und so versuchte jeder etwas, den Witzenspitzel um die Liebe des Königs zu bringen. Witzenspitzel aber war so klug und behutsam und vorsichtig, dass alles umsonst war und er alle Befehle des Königs glücklich zu Ende brachte.
Da nun alle ihre Anschläge nichts fruchten wollten, versuchten sie etwas anderes. Der König hatte einen Feind, mit dem er nie fertig werden konnte, und der ihm alles zum Possen tat. Das war ein Riese, der hiess Labelang und wohnte auf einem ungeheuren Berg, wo er in einem dicken, dunkeln Wald in einem prächtigen Schloss hauste, und hatte ausser seiner Frau, die Dickedull hiess, niemand bei sich als einen Löwen Hahnenbang und einen Bären Honigbart und einen Wolf Lämmerfrass und einen erschrecklichen Hund Hasenschreck; das waren seine Diener. Ausserdem hatte er auch ein Pferd im Stall, Flügelbein genannt.
Nun wohnte in der Gegend von Rundumherum eine sehr schöne Königin, Frau Flugs, die hatte eine Tochter, Fräulein Flink, und der König Rundumherum, der gern alle andern Länder um sein Land herum auch gehabt hätte, hätte die Königin Frau Flugs gern zu seiner Gemahlin gehabt. Sie liess ihm aber sagen, dass noch viele andere Könige sie auch gern zur Gemahlin hätten, dass sie aber keinen nehmen wolle als den allergeschwindesten, und dass der, welcher am nächsten Montag, morgens um halb zehn Uhr, wenn sie in die Kirche gehe, zuerst bei ihr wäre, sie zur Gemahlin und mit ihr das ganze Land haben sollte.
Nun liess der König Rundumherum alle seine Diener zusammenkommen und fragte sie: „Wie soll ich es doch anfangen, dass ich am Montag zuerst in der Kirche bin und die Königin Flugs zur Gemahlin bekomme?“ Da antworteten ihm seine Diener: „Ihr müsst machen, dass Ihr dem Riesen Labelang sein Pferd Flügelbein bekommt; wenn Ihr darauf reitet, kömmt Euch niemand zuvor, und um dieses Pferd zu holen, wird gewiss niemand geschickter sein als der Edelknabe Witzenspitzel, der ja alles zustande bringt.“
So sagten die bösen Diener und hofften schon, der Riese Labelang werde den Witzenspitzel gewiss umbringen. Der König befahl also dem Witzenspitzel, er soll das Pferd Flügelbein bringen. Witzenspitzel erkundigte sich um alles recht genau, wie es bei dem Riesen Labelang beschaffen sei, und dann nahm er sich