»Kannten Sie ihn?«
Der Deutsche erlaubte sich ein kleines, feines Lächeln. »Selbst wenn ich ihn gekannt hätte, würde ich ihn wohl kaum wiedererkannt haben, nicht?«
Høyer antwortete nicht, aber er war anderer Meinung. Hätte er den Toten gut gekannt, hätte er ihn trotz allem erkannt. Körper, Haare, Größe, ja, vielleicht sogar die Badehose.
Der Mann von der Strandwache konnte auch nichts Neues hinzufügen. In groben Zügen wiederholte er die Erklärung, die er bereits dem Ortspolizisten gegeben hatte. »Das ist bestimmt ein Deutscher«, schloss er, »die liegen hier fast vierundzwanzig Stunden am Tag. Sie können einfach nicht genug bekommen von Sonne und Strand.«
Das klang fast, als wäre er der Ansicht, der Mann hätte sich hingelegt und sich auf unerklärliche Weise selbst den Kopf eingeschlagen.
Høyer ließ sie gehen. Irgendwann mussten sie die Aussage des Deutschen übersetzen und in Reinschrift bringen, aber das hatte Zeit.
Therkelsen kam zu ihm. »Es sieht so aus, als ob Wenn–ich–das–so–sagen–darf–Jønsson wirklich etwas gefunden hat«, sagte er.
Der Ortspolizist stand ungefähr zehn Meter von der Mulde entfernt und zeigte auf eine 2–Liter–Flasche, die ein Stück abseits des Weges lag.
»Ich möchte nicht besserwisserisch erscheinen«, sagte er. »Aber meiner Meinung nach könnte das, wenn ich das so sagen darf, die Mordwaffe sein.«
Høyer beugte sich hinunter und sah sich die Flasche an. Jønsson hatte vollkommen Recht. Das war gut möglich. Die Flasche war auf einer Seite schmierig und klebrig und fast ganz mit Sand bedeckt.
Høyer winkte dem Fotografen, der jetzt unten in der Mulde fertig war. »Wir brauchen hiervon noch ein paar Bilder«, sagte er. Dann drehte er sich zu Jønsson um. »Den Korken haben Sie wohl nicht gefunden?«
»Den Korken?« Jønsson starrte ihn an.
»Ja. Die Flasche selbst ist ja nicht besonders schwer, deshalb könnte ich mir denken, dass sie voll war, als sie benutzt wurde. Entweder mit Wasser oder – wer weiß – mit Wein. Und vor dem Wegwerfen ist sie dann geleert worden. Suchen Sie nach dem Korken.«
»Der Medizinmann ist da«, sagte Therkelsen. »Sollen wir zu ihm gehen und hören, was er zu sagen hat.«
»Vermutlich nicht sehr viel«, sagte Høyer. »Abgese– hen davon, dass der Mann tot ist, und das kann ich selbst sehen.«
Sie gingen zurück zu der Mulde.
»Ein seltsamer Ort, den er sich ausgesucht hat«, sagte der Arzt und sah verwundert zu ihnen auf, als wären sie für die Platzierung der Leiche verantwortlich. »Aber ich kann euch sagen, dass er seit mindestens zwölf Stunden tot ist. Und anscheinend haben ein oder mehrere Schläge dazu geführt. Jedenfalls gibt es keine anderen Zeichen von Gewalteinwirkung. Und ich würde darauf wetten, dass es vor vier Uhr gestern Nachmittag passiert ist.«
»Im Ernst?«, sagte Høyer überrascht. Es war selten, dass der Arzt sich so entschieden ausdrückte. »Woraus schließt du das?«
»Daraus, dass er hier liegt«, sagte der Arzt. »Er hat hier offenbar ein Sonnenbad genommen, als es passiert ist, und um vier war Seenebel und niemand, der alle Sinne beieinander hat, würde sich dann hier hinlegen.«
»Nicht einmal ein Deutscher, egal was die Strandwache meint«, sagte Høyer.
»Aber wir können ihn ebenso gut direkt in die Gerichtsmedizin bringen«, sagte der Arzt. »Dann bekommt ihr einen ordentlichen Bericht.«
Er richtete sich auf und sah sich um. »Ziemlich kaltblütig, nicht? Mitten am Strand mit Hunderten von Menschen.«
»Nun ist das hier ja nicht mitten am Strand«, sagte Høyer. »Und wenn dir nicht gerade jemand dabei zusieht, wie du es tust, läufst du keine Gefahr aufzufallen.«
»Nee, vielleicht nicht.« Der Arzt schloss seine Tasche und kletterte aus der Mulde. »Und der ganze Sand. Na ja, der ist wenigstens sauber.«
»Wir wissen ja nicht einmal, ob er Deutscher ist«, sagte Therkelsen, als der Arzt den Weg hinunter verschwunden war.
»Tatsache ist, dass wir überhaupt nichts über ihn wissen«, sagte Høyer. »Zu allererst müssen wir ihn identifizieren. Das wird hoffentlich kein großes Problem. Es muss doch jemanden geben, der ihn vermisst.«
»Na ja«, Therkelsen sah nicht überzeugt aus. »Das ist nicht gesagt. Es kann sein, dass er alleine hier oben war. Vielleicht hat er im Hotel gewohnt oder auf dem Campingplatz.«
»Im Hotel wird ein Gast, der plötzlich verschwindet, auf jeden Fall auffallen.«
»Er kann doch auch hier aus der Stadt sein.«
»Das glaube ich nicht«, sagte Høyer. »Ich bin sicher, dass er Tourist war. Sonst hätte die Strandwache ihn doch gekannt.«
»Aber er kann ein Tagestourist gewesen sein«, sagte Therkelsen. »Er kann mit dem Auto gekommen sein, um sich ein paar Stunden an den Strand zu legen. Dort bei der Absperrung parken Autos. Und hinten auf dem Parkplatz stehen auch welche.«
»Tja, wir sollten wohl besser in die Gänge kommen«, sagte Høyer und versuchte optimistischer zu klingen, als er sich fühlte. Wenn es sich nur um eine richtige Stadt mit einer halbwegs homogenen Ansammlung von Menschen gehandelt hätte, aber das hier war ein Ferienort, wo Tausende von Menschen für eine kürzere oder längere Zeit auf wenigen Quadratkilometern zusammengeballt waren. Man konnte nur hoffen, dass jemand den Mann in der blauen Badehose bereits vermisste. Oder dass jemand etwas gesehen hatte, das sie auf die Spur des Täters führte. Ansonsten hatten sie wirklich eine harte Nuss zu knacken. Und ein Drittel der Belegschaft war noch immer in Urlaub.
Plötzlich hatte Høyer das Gefühl, dass sein eigener Urlaub schon lange zurücklag.
Der Mord war an diesem Tag das Thema in der Stadt. In vielen verschiedenen Versionen. Bo wurde eine davon präsentiert, als er Pia traf.
»Hey, Bo! Hast du gehört, dass unten in den Dünen ein Mädchen erwürgt worden ist? Ich darf abends nicht mehr raus, bevor sie nicht den Mörder gefunden haben.«
»Das war kein Mädchen, das war ein Mann«, sagte Bo.
»Das kannst du doch nicht wissen«, sagte Pia beleidigt. Ihre Freundin kicherte.
»Doch, sie haben es im Radio gebracht.«
»Ach ja? Aber ich glaube trotzdem nicht, dass ich alleine raus darf.«
Bo lachte. »Du bist ja auch nicht alleine. Und was sollst du auch abends am Strand?«
»Das weiß ich nicht. Einen Spaziergang machen«, sagte sie und fügte hinzu: »Spendierst du mir ein Eis?«
Die Frage kam unweigerlich jedes Mal. Bo fragte sich, ob sie sich wirklich jedes Mal, wenn sie ihn traf, Hoffnungen auf ein Eis machte oder ob es sich um einen bedingten Reflex handelte, der bei seinem Anblick ausgelöst wurde.
Er schüttelte den Kopf. »Heute nicht. Ihr habt gestern eins bekommen. Glaubt ihr, ich bin Millionär?«
»Gestern hattest du doch massenhaft Geld.«
»Ja, aber das ist lange her. Was ist übrigens mit der Uhr und dem Schuh? Habt ihr die abgeliefert? Dafür habt ihr doch bestimmt Finderlohn bekommen.«
»Au, Mann!«, Pia schlug sich mit der Hand auf den Mund. »Verdammt, das habe ich vergessen. Aber glaubst du, dass wir etwas bekommen, bevor jemand danach fragt?«
»Keine Ahnung. Ihr werdet es ja sehen.«
»Ich dachte nur, dass du uns jetzt, wo du weißt, dass ich Geld bekomme, vielleicht Geld für ein Eis leihen