In den Sand gesetzt - Skandinavien-Krimi. Kirsten Holst. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Kirsten Holst
Издательство: Bookwire
Серия: Ein Fall für Kriminalkommissar Høyer
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9788726569506
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      »Bist du endlich zu Hause angekommen?« Sie lächelte ihn an.

      Høyer lehnte sich im Stuhl zurück.

      »Ja, ich glaube, jetzt habe ich meine Seele eingeholt.«

      Bo schlenderte mit seiner am Zeigefinger baumelnden Trophäe langsam durch die Stadt. Zwischendurch wechselte er die Hand. Er sah auf seine Uhr. Es war nicht einmal drei. Er setzte sich in ein Straßenrestaurant und bestellte ein Bier. Er war der einzige Gast. Die Stadt machte einen ausgestorbenen Eindruck, alle schienen unten am Strand zu liegen. Nur die Geschäftsleute standen vor ihren Läden oder saßen auf den Treppenstufen und schlürften Sonnenschein in sich hinein, während sie auf bessere Zeiten warteten. Bo sah sich um. Es war merkwürdig, die Stadt so zu sehen. Mit Sonnenschein, offenen Geschäften, Warenstativen, Sonnenschirmen und Cafétischen, aber ohne Menschen. Oder jedenfalls ohne viele Menschen. Es kam ihm vor wie eine Bühne, auf der eine Riesenhand alle Akteure entfernt hatte, sodass nur noch die Kulisse da war. Es war eine seltsame Stadt. Nicht wie andere Städte, die er kannte; manchmal verabscheute er sie und trotzdem dachte er nicht im Traum daran, seine Ferien anderswo zu verbringen. Er gehörte trotz allem hierher. Das lag natürlich nicht nur an der Stadt. Das lag auch an seinem Onkel Lars und Tante Bella, doch selbst wenn es sie nicht gegeben hätte, würde er zurückkommen, dachte er und wusste, dass das nicht stimmte, denn wenn es sie nicht gegeben hätte, hätte es auch die Stadt nicht gegeben. Jedenfalls nicht für ihn. Als sein Vater und seine Mutter geschieden wurden, hatte er ein langes, furchtbares Jahr auf dem Internat verbracht. Kein Elternteil schien in seinen Träumen von einem neuen Leben Platz für einen schlaksigen, schwierigen Jungen von dreizehn Jahren zu haben. Er hatte sich schrecklich gefühlt, verraten, ausgemustert und irgendwie schuldig. Als er Lars und Bella in den Sommerferien besucht hatte, war der Onkel entsetzt gewesen über die Veränderung, die mit ihm passiert war, und er hatte die Sache sofort in die Hand genommen. Bos Eltern hatten fast erleichtert gewirkt, als er ihnen vorgeschlagen hatte, dass Bella und er Bo in Pflege nehmen wollten. Das befreite sie von einer Verantwortung, die zu übernehmen sie keine Lust hatten, und vielleicht auch von einem leichten Schuldgefühl. Seit Bo hier ein Zuhause gefunden hatte, hatte er sie nicht oft gesehen und häufig hatte er sich bei dem Wunsch ertappt, dass Lars und Bella seine richtigen Eltern wären. Der ruhige, gelassene Lars, mit dem man über alles reden konnte, und die warme, lebensfrohe Bella, die ihr lustiges, gebrochenes Dänisch mit französischen Wendungen würzte, wenn sie sich über etwas aufregte. Niemand wusste genau, wo Onkel Lars sie getroffen hatte. Bo konnte sich schwach erinnern, dass sie plötzlich da gewesen war und dass das eins der Dinge war, über die die Familie mit gedämpfter Stimme und warnenden Seitenblicken sprach, wenn er in der Nähe war. Er wusste auch, dass in der Stadt Gerüchte über sie umgingen. Vielleicht war es Lars selbst, der ihm vor vielen Jahren davon erzählt hatte, damit er vorbereitet war, wenn er von anderen etwas hörte. Aber Bo erinnerte sich nicht, dass das je passiert war, jedenfalls hatte er es nie mitbekommen. Nicht bis zum letzten Mal, als er zu Hause gewesen war. In den Weihnachtsferien. Es war eine absolut alberne Geschichte gewesen. Er war in eine Kneipe gegangen und hatte sich mit ein paar alten Schulkameraden unterhalten. Mit ein paar jungen Männern, mit denen er vor vielen Jahren zusammen in die Schule gegangen war. Ein Bier hatte das andere abgelöst und irgendwann war offenbar Bellas Name in der Unterhaltung gefallen. Bo wusste nicht mehr, was eigentlich passiert war, er konnte sich nur erinnern gesagt zu haben, dass es schade sei, dass sie nie selbst Kinder gehabt hatte, sie wäre eine fantastische Mutter gewesen. Worauf einer der anderen ein schäbiges Gelächter angeschlagen und gesagt hatte: »Ja, verdammt, auf verbrannter Erde wächst nun mal nichts mehr.«

      Bo schüttelte sich leicht bei der Erinnerung an das dumme, leere Gesicht des anderen mit seinem gehässigen, wissenden Gelächter und wie er plötzlich geglotzt hatte, als Bos Faust vorgeschossen war und mit einer perfekten Rechten seinen Kiefer getroffen hatte. Bo war fast ebenso überrascht gewesen, er hatte nicht gewusst, dass er schlagen konnte.

      Es war eine dumme Geschichte gewesen und das Schlimmste war, dass er es hinterher weder erklären noch sich verteidigen konnte. Er konnte weder der Polizei und erst recht nicht Lars und Bella erzählen, was ihn plötzlich zum Schläger hatte werden lassen. Manchmal hatte er das Gefühl, dass Lars ahnte, was dahinter steckte, aber das war eins der wenigen Dinge, über die sie nicht sprechen konnten. Natürlich hätte er nicht Zuschlagen dürfen, er hätte es einfach überhören sollen, aber im Innersten hatte er es nicht bereut, nicht einmal als er wegen Gewalt gegen Unschuldige zu zwanzig Tagessätzen zu je sechzig Kronen verurteilt worden war. Unschuldige! Hoffentlich geriet die ganze Geschichte bald in Vergessenheit, er war um eine Erfahrung reicher und musste sich damit abfinden, dass man ihn zumindest eine Zeit lang für einen Schläger hielt.

      Er spülte den letzen Schluck Bier hinunter und schnitt eine Grimasse. Es war schon lauwarm. Er stand auf, nahm den Schuh vom Stuhl neben sich und ging zu Jes– pers Grill. Schon von weitem schlug ihm der fettige Geruch der Fritteuse entgegen, der Geruch von Pommes frites, Grillhähnchen, Zwiebeln und Ketchup, der immer hier in der Luft hing.

      Er setzte sich auf einen der draußen stehenden Stühle. Das große, dunkle Mädchen, das gerade ein junges Paar bediente, lächelte ihn kurz an, dann konzentrierte sie sich wieder auf ihre Hotdogs.

      Er saß da und betrachtete sie. Sie war schön. Ohne Zweifel. Aber nicht schöner als so viele andere Mädchen. Warum hatte er sich so rettungslos in sie verliebt? Maja, Maja, Maja, ihr Name ging ihm die ganze Zeit nicht aus dem Kopf und er benutzte jede Gelegenheit, hierher zu kommen und mit ihr zu reden. Noch nie in seinem Leben hatte er so viele Hotdogs, Pommes frites und Hamburger gegessen wie in diesem Sommer. Bella machte sich richtig Sorgen um seinen mangelnden Appetit. »Du musst verliebt sein«, sagte sie und irgendwie hatte sie ja Recht.

      Maja war fertig, legte die Arme auf die Theke und beugte sich zu ihm vor.

      »Habe ich Ketchup auf der Nase?«, fragte sie.

      »Was?«, sagte er. »Nein, warum?«

      »Du starrst mich so an.«

      »Tu ich das?« Er stand auf und ging zur Theke. »Schau mal, was ich dir mitgebracht habe.« Er stellte den Schuh auf die Theke.

      Sie sah ihn an und lachte. »Du spinnst ja! Was soll ich denn mit einem Schuh?«

      »Du weißt ja nicht, was in ihm drinsteckt«, lachte er. Er steckte die Hand suchend in den Schuh, guckte verblüfft und zog eine graublaue Socke heraus. »Wie wäre es mit eine Socke?«

      »Kein Bedarf«, sagte sie. »Und du solltest den Schuh besser von der Theke nehmen. Wenn Jesper das sieht, bekommt er einen hysterischen Anfall. Er ist fest davon überzeugt, dass die Hälfte unserer Kunden Spione vom Gesundheitsamt sind, die darauf achten sollen, ob wir uns die Finger ablecken oder in der Nase bohren oder Schuhe auf die Theke stellen.«

      »Äußerst beruhigend«, sagte Bo. »Das hält euch bei der Stange.«

      »Ja, und ob. Ist das dein Schuh?«

      »Meiner? Bist du verrückt. Das ist nicht gerade mein Stil. Siehst du nicht, dass das ein teurer Schuh ist?«

      »Ich hab keine Ahnung von Herrenschuhen. Wie teuer ist er?«

      »Tja, ein einzelner Schuh ist natürlich nicht viel wert, eigentlich gar nichts. Das könnte ich jetzt natürlich noch weiterspinnen, es ist ja irgendwie symbolisch, nicht? Aber ich werde dich damit verschonen. Kurz gesagt, ich würde wetten, dass ein Paar davon – wenn man ein Paar hätte – ungefähr ...« Einen Moment sah er sich den leichten, hellen Sommerschuh mit dem geflochtenen Oberleder an. »Sechs– bis siebenhundert Kronen kostet.«

      »Sechs– bis siebenhundert! Das ist doch Wahnsinn!«

      »Er ist schick. Italienisch. Markenware.«

      »Wem gehört er?«

      »Keine Ahnung. Ich habe ihn gefunden.« Er schwang den Schuh hin und her und etwas fiel auf die Theke. »Zum Teufel, da ist auch noch eine Uhr. Mensch, die hätte ich leicht verlieren können.«

      »Die Socke hat sie festgehalten«, sagte Maja.

      Bo zog die Uhr an.

      »Schön. Ich habe mir immer