Die Kronprinzessin. Hanne-Vibeke Holst. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Hanne-Vibeke Holst
Издательство: Bookwire
Серия: Die Macht-Trilogie
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9788726569605
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zur Verfügung gehabt hatte. Aber das aufzugreifen und ihn der Unterdrückung des weiblichen Geschlechts anzuklagen und ihm am helllichten Tage chauvinistische Konspiration zu unterstellen! Ihm, der sie immer als gleichwertigen Gegner betrachtet hatte! Mit einem abwehrenden Kopfschütteln suchte er nach den richtigen, sorgsam gewählten Worten, hatte sie aber leider noch nicht gefunden, als ihre Farbe wieder zu flammendem Rot wechselte, die Augen feucht wurden und sie einen Zug um den Mund bekam, den er erst wenige Male gesehen hatte. Sie beugte sich nach vorne und flüsterte fast: »Du hast Eva vergessen, nicht wahr? Ihr alle habt sie vergessen, oder? Du und Gert und die ganze Meute? Was meinst du wohl, warum sie damals von der Brücke gesprungen ist?«

      Das war eine so grobe Anklage, dass ihm die Luft wegblieb und er nicht zu einer Erwiderung imstande war, wenngleich sein eigener Zorn hochzukochen begann. Er war so wütend, dass er nicht einmal Tove Munch beachtete, die in diesem Augenblick die Tür öffnete und hereinschlüpfte, um ein paar unterschriebene Dokumente von seinem Schreibtisch zur weiteren Bearbeitung zu holen. Sie hingegen blieb abrupt stehen, als sie bemerkte, wie aufgeregt er war. Die Unterlippe vorgezogen, die Hände geballt, die Knöchel weiß, während Elizabeth Meyer erstarrt war wie ein Wachsmodell in einem historischen Tableau.

      »Ich habe Eva geliebt«, sagte er leise zitternd. »Ich vergesse sie niemals. Das weißt du genau!«

      Elizabeth Meyer schielte in Tove Munchs Richtung, sodass die sich wieder in Bewegung setzte und die Dokumente aus der Ablage des Schreibtischs nahm. Aber die Situation war so angespannt, dass auch Meyer nicht wartete, bis sie wieder alleine waren, bevor sie in demselben leisen Ton fortfuhr.

      »Weshalb sprang sie denn? Deiner Meinung nach?«

      Per Vittrup stand auf und ging zum Fenster, wobei er seine Sekretärin kreuzte, die auf dem Weg zurück zur Tür war.

      »Weil sie zu zerbrechlich war für diese Welt! Aber das wolltest du nicht wahrhaben! Sie sollte mit aller Gewalt nach vorne gebracht werden!«

      »Sie war eine Idealistin! Sie brannte dafür! Sie wollte!«

      »Eva war psychisch labil«, murmelte Per Vittrup abgewandt zu sich selbst, bevor er sich wieder zu ihr umdrehte. »Ihr fehlte die nötige Brutalität. Das haben wir damals nur nicht begriffen.«

      Tove Munch registrierte, dass er in den Schultern leicht zusammengesunken war, als sie sich routinemäßig über den Konferenztisch beugte, um die leere Thermoskanne mitzunehmen. Ohne frischen Kaffee konnte der Staatsminister nicht leben. Erst recht nicht an so einem Tag.

      »Damals, als wir alle Idealisten waren ...«, setzte Elizabeth Meyer säuerlich fort, während sie ihre Dior-Lesebrille aufsetzte, die an einer Schnur um ihren Hals hing. Dann bat sie Tove Munch darum, auch eine Kanne frischen Tee zu bringen.

      Tove Münch nickte diskret und zog sich zurück, während der Staatsminister zu seinem Stuhl zurückging. Damit war das Thema »Eva Bøgelund« beendet. In erster Linie, weil niemand aus der damaligen Fraktion – und vielleicht am allerwenigsten Vittrup und Meyer – darauf brannte, die alten Wunden wieder aufzureißen, die sie alle zusammen damals davongetragen hatten, als sie – die strahlende Sonne der Partei – kurz nach dem Kongress im September ’82, 34-jährig von der Lillebelt-Brücke gesprungen war. Nach einem harten Kampf mit vielen Intrigen war es Meyers Fraktion, auch Die Rotkäppchen genannt, geglückt, sie in einer Kampfabstimmung als zweite Vorsitzende gegen den Kandidaten der Metaller, den legendären, grobkörnigen Schlossermeister John Nielsen, durchzusetzen. Per Vittrup, der über längere Zeit ein außereheliches Verhältnis mit Eva Bøgelund gehabt hatte, hatte, davon unberührt, den Schlosser unterstützt. An den taktischen Manövern, die vorausgegangen waren, war er teilweise beteiligt gewesen, und auch, wenngleich etwas mehr im Hintergrund, an den nachfolgenden Verdächtigungen und dem Säen von Zweifeln an Bøgelunds Format und ihrer Loyalität gegenüber der ganzen Partei und nicht zuletzt der Bewegung. Während Nielsen gerade als »Vizevorsitzender der ganzen Partei« lanciert wurde, wurde Eva Bøgelund in der anonymen Schmutzkampagne, die im Kielwasser der Wahl folgte, als »Blaustrumpf«, »Schulmädchen«, »Männerhasserin«, »Meyers Marionette« und ähnliches beschimpft. Die Boulevardpresse druckte das Ganze und noch mehr, indem die Spalten im Großen und Ganzen jedweder anonymen Quelle zur freien Verfügung standen, die irgendeinen Schmutz hinzuzufügen hatte, der als Abschussrampe für weitere explosive Rubriken und infame Leitartikel dienen konnte.

      Abgesehen von einer ähnlichen Kampagne, die ein paar Jahre früher den missglückten Versuch gestartet hatte, Meyer aus dem Amt der Sozialministerin zu kippen – man hatte sie beschuldigt, ihr Dienstfahrzeug privat genutzt zu haben –, hatte die dänische Medienwelt nie zuvor eine solche persönliche Hetzjagd auf einen namhaften Politiker betrieben. Dass es in Wirklichkeit Meyer war, der man an den Kragen wollte, durchschaute die empfindsame Grundschullehrerin aus Roskilde nicht. Sie nahm jedes Wort persönlich. Und obgleich alle, die ihr nahe standen, sehen konnten, wie sehr die Kritik sie traf, gab es niemanden, der erfasste, wie erschüttert diese junge, noch nicht abgehärtete Frau wirklich war. Umso brutaler war der Schock, als die Besatzung eines kleinen Fischkutters sie an einem frühen Septembermorgen, einige Kilometer von der Brücke entfernt, in ihren Netzen fand, noch bevor sie überhaupt jemand hatte vermissen können, ganz zu schweigen davon, die Abschiedsbriefe zu lesen, die sie am Abend vorher abgeschickt hatte, mit Poststempel »Middelfart«. Gerüchte behaupteten, dass außer den Briefen an ihre Eltern und Geschwister und dem an die Partei noch zwei weitere existierten, einer an ihre Freundin Elizabeth Meyer und einer, der an Per Vittrup persönlich adressiert war, den jungen Kronprinzen, Fraktionsvorsitzenden und – wie alle bald zu wissen glaubten – Geliebten der Toten. Während nie jemand den genauen Wortlaut dieser beiden Briefe erfahren hatte, wurde der offizielle Brief an die Partei dem Wunsch der Toten entsprechend auf einer hastig einberufenen Sitzung vorgelesen und außerdem als Faksimile im Parteiblatt und in einer Boulevardzeitung veröffentlicht. »Um Mythenbildung zu verhindern«, wie sie in einer beigefügten Notiz geschrieben hatte. Ansonsten war dieser Abschiedsbrief ausgesprochen kurz gehalten: »Liebe Freunde und Kameraden. Danke für das Vertrauen, das ihr mir entgegengebracht habt. Es tut mir Leid, dass ich es nicht schaffe, dem gerecht zu werden. Passt gut aufeinander auf. ›Es sind kalte Zeiten, in denen wir leben.‹ Macht sie ein bisschen wärmer! Liebe Grüße, Eure Eva.«

      Eva Bøgelunds Selbstmord löste nicht nur in Schloss Christiansborg eine Schockwelle aus, in der Partei und in der Bewegung, sondern auch in der Bevölkerung, die, ohne die Zusammenhänge zu kennen, ahnte, dass die junge Hoffnungsträgerin Opfer eines unappetitlichen Komplotts geworden war. Der Zorn richtete sich in erster Linie gegen die Sensationspresse, die zuvor Wortführer in der modernen Hexenjagd gewesen war, aber jetzt die Flut der Trauer ausnutzte, indem sie pathetische, sentimentale Nachrufe druckte und Anklagen an die Partei richtete, in denen sie unter anderem behauptete, dass »Evas Herz gebrochen wurde«. Es wurde unverblümt angedeutet, dass ihre »unglückliche Liebe« Per Vittrup gehörte, der allerdings verheiratet war und zwei kleine Kinder hatte. Einige Artikel beschäftigten sich auch näher mit ihrem Verhältnis zu Meyers Rotkäppchen und folgerten, dass »Eva keine Furie war«. Eine anonyme Quelle aus der Partei wurde mit den Worten zitiert, »Politik sei nichts für zarte Seelen«, stillschweigend inbegriffen, dass Eva Bøgelund »als ausgeprägter Gefühlsmensch, der nah am Wasser gebaut hatte«, von Meyer ausgenutzt worden war. Weder Vittrup noch Meyer wünschten, die Sache zu kommentieren, aber auch, wenn beide sich größte Mühe gaben, die Fassade aufrechtzuerhalten, war es für alle um sie herum doch offensichtlich, dass sie tief getroffen waren. Bei der Beerdigung, die in der Bevölkerung zu einem echten Event wurde, trug Meyer eine schwarze Jackie-Onassis-Sonnenbrille, und das Bild, als sie am Sarg kniete und ihre dunkelrote Rose niederlegte, wurde nicht nur Foto der Woche oder des Jahres, sondern des Jahrzehnts. Vittrup, der seine Frau krampfhaft an der Hand hielt, als er am Dom ankam, hielt in seiner Eigenschaft als Fraktionsvorsitzender eine Rede, heiser, abgehackt und kalkweiß, die von Journalisten »die schwerste seines Lebens« genannt wurde. Und als er, nachdem er lange gegen die Tränen gekämpft hatte, schließlich zu den letzten Zeilen seines Manuskripts kam – »Eva, du warst ein leuchtendes Vorbild für uns alle. Durch dein Engagement, deine Ehrlichkeit und dein humanistisches Menschenbild, das man in früheren Zeiten Güte nannte. Du warst ein guter Mensch, Eva. Vielleicht der beste von uns allen. Dein kurzer Kampf war nicht umsonst.