Die Kronprinzessin. Hanne-Vibeke Holst. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Hanne-Vibeke Holst
Издательство: Bookwire
Серия: Die Macht-Trilogie
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9788726569605
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Seufzer der Erleichterung. Jetzt konnte er es sich erlauben zu entspannen, den Krawattenknoten zu lockern und die Schultern fallen zu lassen. Wenn er nicht gerade sehr spät dran war und als Gastgeber bei einem offiziellen Abendessen erwartet wurde, und wenn nicht Gitte selbst in der Küche stand und das Messer schärfte, das sie ihm in den Bauch zu rammen drohte, sollte er nicht SOFORT zu ihrem (in der Regel mediterran inspirierten) Essen kommen – dann ließ er seinen Chauffeur Mappe und Jackett tragen und ging selbst direkt in den Park, um zwischen den alten, seltenen Bäumen umherzuschlendern, die der Mäzen hatte pflanzen lassen.

      Wenn er mit den Fingern über deren Rinde strich, erfüllte ihn jedes Mal das gleiche Gefühl: Dankbarkeit dafür, dass er Zugang hatte zu diesem paradiesischen Garten mit zwitschernden Singvögeln und schwirrenden Libellen, Respekt vor der Großzügigkeit des Mäzens und zugleich eine gewisse Sorge darüber, ob die gegenwärtigen Machthaber, die er als »Beschlussfasser« bezeichnete, denselben Sinn für vorausschauendes Denken haben – »Bäume zu pflanzen« – im Namen der Zukunft. Als eingefleischter Sozialdemokrat mit Wurzeln im zähen westjütländischen Bauern- und Handwerkermilieu war er immer ein verbissener Vorkämpfer des Wohlfahrtsstaates gewesen. Und damit ein ebenso verbissener Gegner des ganzen alten Mäzenatentums mit seiner punktuellen Wohltätigkeit und den mildtätigen Hutträgerinnen, das, recht besehen, lediglich unzureichenden Ablass für die zynische Ausbeutung der arbeitenden Bevölkerung leistete. Aber er musste doch einräumen, dass die Umverteilung und die erfolgreiche Gleichmacherei des Wohlfahrtsstaats auch ihren Preis hatten. Es kamen zwar nur wenige Dänen mit dem Goldlöffel im Mund zur Welt. Dafür war die Mehrzahl mit einem Silberlöffel ausgestattet, der aber von niemandem als ein besonderes Geschenk angesehen wurde, das mit einer Reihe von Verpflichtungen verbunden war, seinen Teil für die Gemeinschaft zu leisten. Vielmehr waren die Dänen inzwischen so verwöhnt und verhätschelt, dass sie schon lange aufgehört hatten, für den Überfluss dankbar zu sein, in dem sie lebten, und stattdessen nach immer mehr schrien. Hier und jetzt. Ein Mäzen, der sich moralisch verpflichtet fühlt, die tragenden Säulen der Gesellschaft zu unterstützen, oder der den Wunsch verspürt, sich seinen Ruhm als ehrwürdiger und verantwortlicher Bürger zu sichern, war allmählich schwer aufzutreiben.

      Fehlende Weitsicht war ein Problem. In diesen Zeiten. Und nicht zuletzt in der Politik; er liebte es, die Jüngeren in der Fraktion darüber zu belehren, wenn er sich eines der seltenen Male in ihrem Kreis niederließ oder Ausgewählte von ihnen zu vertraulichen Gesprächen in sein Büro lud. Letztere hatten meist den Charakter von Selbstgesprächen – langen Monologen, in denen er einige der Analysen und Themen ausprobierte, die später, geschliffen, gemäßigt und ausgeformt, zu Reden oder Einwürfen bei spektakulären Treffen oder wichtigen Fernsehdebatten wurden. Besonders auch im Zusammenhang mit dem Wahlkampf, bis hin zur Eurodebatte, in der er alles gegeben hatte, um zu gewinnen, und bis ganz zum Schluss damit gerechnet hatte, als Sieger daraus hervorzugehen. Die Niederlage hatte ihn erschüttert. Nicht nur, weil es eine schallende Ohrfeige für ihn selbst war, sondern auch, weil er sich zum ersten Mal desorientiert und verwirrt fühlte in Anbetracht des Volkes, das er offenbar so wenig verstanden hatte. Wienn er ganz ehrlich sein sollte, verstand er die Dänen nicht mehr. Oder vielleicht tat er es sogar noch. Aber er weigerte sich anzuerkennen, dass man immer noch über Spitze und Boden in der dänischen Gesellschaft sprechen konnte, über Masse und Elite, über die und uns. Die Sozialdemokratie hatte im Dänemark-Bild des Staatsministers haushoch gewonnen. Und wenn es auch möglicherweise ein paar Gegensätze gab, konnte es ihn doch ausgesprochen rasend machen, wenn jemand anzudeuten versuchte, dass sich unter der augenscheinlich so glatten Oberfläche immer noch markante Bruchstellen in einem Ausmaß fanden, die die Vorstellung einer homogenen, klassenlosen Gesellschaft unhaltbar machten.

      Und er blieb dabei, obgleich Gitte, seine Liebste, seine Beharrlichkeit als zugleich »rührend und tragisch« bezeichnete und behauptete, diese würde in erster Linie auf ihn selbst hinweisen und auf sein Insistieren darauf, nicht aufgegeben zu haben. Sie hatten das Richtige gemacht, er hatte das Richtige gemacht.

      Gut, ja, er hatte mit der Tradition gebrochen, ja, die Margarine-Stullen und die roten Kampflieder seiner Proletarier-Kindheit lagen weit zurück, ja, es war die Geschichte vom Milchjungen, der Staatsminister wurde ... aber niemand sollte sich jemals das Recht herausnehmen anzudeuten, er hätte vergessen, wo er herkam. Alles, was er tat, tat er für sie. Für ihre Kinder, Enkel und Urenkel. Und wer wollte behaupten, dass es nicht geglückt wäre? Machten nicht Arbeiterkinder ihr Abitur? War die Arbeitslosigkeit nicht so gut wie abgeschafft? Konnten die Älteren ihrem Ruhestand nicht sicher entgegensehen? Sogar von der Schuldenlast hatten sie so viel abhobeln können, dass niemand mehr den Kollaps des dänischen Wohlfahrtsstaates befürchten musste. Und was die Angst vor Überfremdung anging, so hatten auch sie dem großen Teil der Bevölkerung Entgegenkommen gezeigt, der die dänische Identität bedroht sah. Er war bereit, die dänischen Werte zu schützen, er war Garant für sie – und auch wenn er sich auf öffentlichem Parkett verblüffend gut schlug und schon lange gelernt hatte, mit einem Champagnerglas zu hantieren, so war er doch tief drinnen im Bauch so dänisch wie ein Hotdog mit Röstzwiebeln.

      Deshalb war er auch so frustriert darüber, dass die Wähler ihn als »unglaubwürdig« aburteilten. Das war nicht gerechtfertigt. Dennoch hatte er seit der Euro-Niederlage auf die Medienberater gehört, die meinten, dass die Tage der Partei als Hauptnenner gezählt seien. Jedenfalls dann, wenn die Sozialdemokratie nicht bald einsehe, dass kosmetisches Lifting und populistisches Fettabsaugen einfach nicht ausreichten, um die Politikverdrossenheit zu eliminieren, die nämlich genau daraus resultierte, dass es zumindest in der Einbildung des Volkes ein »Oben-Dänemark« und ein »Unten-Dänemark« gab. Sie alle mussten verdammt bald mit etwas anderem in Erscheinung treten. Beweisen, dass man den Zeitgeist zu interpretieren wusste, dass man das politische Phlegma der jüngeren Generation verstand. Und dass man die tastende Frustration und Unsicherheit aufzuheben wusste, die sich in beinahe jeden Winkel des Landes eingeschlichen hatte, das er ansonsten kannte wie die Blaumann-Tasche seines Vaters. Sie mussten für etwas stehen. Das Profil schärfen, Integrität und Würde zeigen. So, dass sie es schaffen konnten, die Umfrageergebnisse umzukehren, die Woche für Woche bis weit unter die Schmerzgrenze rasselten. Dahin, wo auch die persönliche Popularität des Staatsministers vor sich hin dümpelte. Immer mehr Kritiker sprachen offen darüber, dass er die Konsequenzen daraus ziehen und gehen müsse. Zuletzt war er im Leitartikel des Börsenblattes im Zuge der Pressespekulationen der letzten Tage dazu aufgefordert worden, nachdem erst sein Verteidigungs- und dann auch sein Außenminister ihren Hut genommen hatten. Seinem Stab gegenüber schlug er die immer gröberen persönlichen Angriffe in den Wind, aber irgendwo unter der dicken Elefantenhaut rumorte es doch. Nicht, dass er tödlich getroffen gewesen wäre, das bestimmt nicht. Aber er merkte selbst, dass er reizbar war und sich zwischenzeitlich der Mutlosigkeit näherte, die ihn in früheren Zeiten zu einem mürrischen, aufbrausenden und schwierigen Chef für seine Mitarbeiter im Staatsministerium gemacht hatte. Dass einige, viel zu viele, die Konsequenzen gezogen und sich hatten versetzen lassen, was das Staatsministerium aussehen ließ wie ein von einem Tornado verwüstetes Durchgangslager, war bedauerlich. Untragbar. Um nicht zu sagen ein großer Haufen Scheiße. Dass zurzeit relative Ruhe herrschte, war teils dem Umstand zu verdanken, dass er es mit einem Willensakt geschafft hatte, sein Temperament zu zügeln, teils lag es daran, dass alle auf die Rochade warteten. Mit den beiden Ministerabgängen war die Unsicherheit vorbei – jetzt war es nicht mehr die Frage ob, sondern wann. Schloss Christiansborg, die »Burg«, stank förmlich vor Mutmaßungen und Klatschgeschichten, Journalisten lasen in Betonungen, Gesichtsausdrücken und im Kaffeesatz und erstellten neue Listen und Nachrichten über das Wer und das Wann.

      So auch heute, konstatierte er, als er am Küchentisch stand und die Zeitungen überflog, während er an einem Glas mit frisch gepresstem Orangensaft nippte. An nichts konnte er sich da erfreuen, außer daran, dass – obwohl einige der alten Zeitungsratten gute Nachrichten hatten – niemand dabei war, der den Jackpot knacken und die Liste bringen konnte, die er als die endgültige ansah. In der Sitzung gestern Abend hatten sie sich darauf geeinigt, dass die neuen Minister der Königin am Donnerstag, dem 21.12., dem kürzesten Tag des Jahres, präsentiert werden sollten. Der Hof war unter der Hand schon informiert, und das Spiel war gestern aufgegangen, sodass die Radikalen abgehandelt waren, was ihre Interessen anging. Ihr Wunsch nach »Gesinnungsministerien« schien