In der ersten Zeit, seit Charles nach Bertaux ritt, versäumte Frau Bovary nicht, nach dem Befinden des Kranken zu fragen. Sie hatte in ihrer doppelten Buchführung sogar eine schöne neue Seite eigens für Herrn Rouault eingerichtet. Als sie jedoch hörte, daß er eine Tochter habe, zog sie nähere Erkundigungen ein und erfuhr, daß Fräulein Rouault im Kloster bei den Ursulinerinnen aufgewachsen sei und dort eine sogenannte gute Erziehung genossen habe und daß sie infolgedessen im Tanzen, in der Geographie, im Zeichnen, im Sticken und im Klavierspielen bewandert sei. Das war die Höhe!
Also deshalb, sagte sie sich, strahlt er immer so, wenn er zu ihr fährt! Deshalb zieht er immer die neue Weste an, auch auf die Gefahr hin, daß der Regen sie ihm ruiniert! Ah, diese Person! Diese Person!
Und sie haßte sie instinktiv. Anfangs machte sie sich durch Anspielungen Luft, die Charles nicht verstand, dann durch allerlei streitsüchtige Betrachtungen, auf die er sich nicht einließ, um nicht ein Gewitter heraufzubeschwören, und schließlich durch ganz unverblümte Vorwürfe, auf die er nicht zu antworten wußte.
Woher kam es denn, daß er immer noch nach Bertaux fuhr, obgleich Herr Rouault längst geheilt war und diese Leute immer noch nicht bezahlt hatten? Doch wohl nur daher, weil dort jemand war, eine Person, die hübsch zu schwatzen verstand und sich gebildet aufspielte, eine Schöngeistige! Das war ja wohl so nach seinem Geschmack, das brauchte er ja wohl: ein Stadtdämchen! „Hach!“ höhnte sie geringschätzig. „Die Tochter des alten Rouault! Die, und eine feine Dame! Ihr Großvater war Schäfer, und ein Vetter von ihr ist beinah mal vors Schwurgericht gekommen, weil er bei einem Krakeel das Messer gezogen hat! Die hat es gerade nötig, so viel Trara zu machen und sonntags in der Kirche im seidenen Kleid daherzukommen wie eine Gräfin! Der gute Rouault! Als ob nicht jeder wüßte, daß er ohne die gute Rapsernte im vorigen Jahr nicht ein und aus gewußt hätte vor Schulden!“
Um des lieben Friedens willen stellte Charles schließlich seine Besuche in Bertaux ein. In einem großen Liebesausbruch hatte ihn Héloïse unter vielen Tränen und Küssen auf das Meßbuch schwören lassen, daß er nie mehr dort hingehen werde. Er gehorchte auch, aber sein Herz empörte sich gegen seine eigene Fügsamkeit, und in einer Art Bauernschläue legte er es sich so aus, daß dieses Verbot, Fräulein Rouault wiederzusehen, ihm nunmehr ein Recht gebe, sie zu lieben. Und seine Witwe war so mager und hatte so lange Zähne. Sie trug Sommer wie Winter ein kleines schwarzes Halstuch, dessen Enden ihr beständig hinten zwischen den Schulterblättern herumbaumelten. Ihre knochige Gestalt war immer in zu enge, futteralartige Kleider gezwängt, die so kurz waren, daß darunter ihre Knöchel mit den auf den grauen Strümpfen gekreuzten Bändern der großen Schuhe hervorschauten.
Von Zeit zu Zeit kam Charles’ Mutter zu Besuch, aber der Schwiegertochter gelang es immer schon nach wenigen Tagen, sie auf ihre Seite zu bringen, und dann hackten sie beide mit ihren Vorwürfen und Ermahnungen wie zwei Messer auf ihm herum: Wie kann man nur so viel essen! Warum immer gleich jedem ersten besten, der kommt, etwas zu trinken anbieten! Was für ein Eigensinn, kein wollenes Unterzeug zu tragen!
Da geschah es zu Beginn des Frühlings, daß sich der Notar in Ingouville, der das Vermögen der Witwe Dubuc verwaltete, eines schönen Tages bei günstiger Gelegenheit auf und davon machte und unter Mitnahme sämtlicher ihm anvertrauten Gelder über den Ozean entschwand. Nun besaß Héloïse zwar außer einem auf sechstausend Francs geschätzten Schiffsanteil noch ihr Haus in der Rue Saint-François, aber von dieser Herrlichkeit, von der sie einst so viel Aufhebens gemacht hatte, war bis jetzt außer ein paar Möbelstücken und Nippsachen nichts zum Vorschein gekommen. Da mußte Klarheit geschafft werden. Es stellte sich heraus, daß das Haus in Dieppe bis in die Balken von Hypotheken zerfressen war wie von Holzwürmern. Wieviel sie beim Notar hinterlegt hatte, wußte Gott allein, und der Schiffsanteil betrug nicht mehr als tausend Taler. Sie hatte gelogen, die gute Dame!
In seiner Wut zerschlug Vater Bovary einen Stuhl auf den Fliesen und beschuldigte seine Frau, ihren Sohn ins Unglück gestürzt zu haben, indem sie ihn mit so einer Schindmähre verkuppelte, die nicht mal mehr das Futter wert sei. Sie fuhren nach Tostes. Es gab eine Auseinandersetzung und große Szenen. Héloïse warf sich schluchzend in die Arme ihres Gatten und beschwor ihn, sie gegen seine Eltern zu verteidigen. Charles wollte vermitteln, aber da wurden die Alten böse und fuhren ab.
Héloïse konnte den Schlag jedoch nicht überwinden. Acht Tage später, als sie im Hof beim Wäscheaufhängen war, bekam sie einen Blutsturz, und am nächsten Morgen, während Charles ihr gerade den Rücken zuwandte, weil er den Fenstervorhang vorzog, sagte sie: „Ach, mein Gott“, stieß einen Seufzer aus und verlor das Bewußtsein. Sie war tot. Wie sonderbar!
Als auf dem Friedhof alles vorbei war, ging Charles in sein Haus zurück. Unten im Erdgeschoß war niemand. Er stieg in den ersten Stock hinauf und trat ins Zimmer, wo er ihr Kleid noch im Alkoven hängen sah. Dann setzte er sich an den Schreibtisch und blieb, den Kopf in die Hand gestützt, bis in den Abend hinein in schmerzliche Betrachtungen versunken. Sie hatte ihn immerhin geliebt.
3
Eines Morgens erschien Vater Rouault und brachte Charles das Honorar für sein geheiltes Bein: fünfundsiebzig Francs, in Vierzigsousstücken, und eine Truthenne.
Er hatte von dem Trauerfall erfahren und tröstete ihn, so gut er konnte.
„Ich weiß, wie das ist“, sagte er und klopfte ihm auf die Schulter, „ich habe das auch durchgemacht! Als ich meine arme Selige verloren hatte, da lief ich hinaus in die Felder, um allein zu sein. Unter einem Baum warf ich mich hin, flennte, rief zum lieben Gott und sagte ihm allerlei Torheiten. Ich hätte einer von den Maulwürfen sein mögen, wie ich sie manchmal am Weg liegen sah, verreckt, schon die Würmer im Bauch. Und wenn ich dann dachte, daß die anderen nun ihre lieben, netten Weiberchen noch hatten und sie ans Herz drücken konnten, da prügelte ich vor Wut die Erde mit meinem Stock. Ich war wie verrückt; ich aß keinen Bissen mehr. Der Gedanke, allein beim Kaffee zu sitzen, widerte mich an. Na – ja und dann, so ganz sachte, wie ein Tag nach dem anderen verging und ein Frühling nach dem Winter und ein Herbst nach dem Sommer, da ist das so von mir abgebröckelt, Stückchen um Stückchen, fort, weg – oder hinunter, will ich sagen, denn etwas bleibt ja immer in einem stecken, ganz tief im Grunde, so was wie . . . ein Klumpen, da in der Brust! Aber da das ja nun einmal unser aller Schicksal ist, darf man deswegen nicht gleich meinen, es sei alles aus, und sterben wollen, weil andere vor einem gestorben sind. Sie müssen sich aufrappeln, Herr Bovary, das geht alles vorüber! Besuchen Sie uns doch mal! Meine Tochter denkt manchmal an Sie, müssen Sie wissen, und meint schon, Sie hätten sie ganz vergessen. Jetzt wird’s bald Frühling. Wir werden Sie mit ins Revier nehmen auf die Karnickeljagd; das wird Sie ein bißchen zerstreuen.“
Charles folgte seinem Rat und kam wieder nach Bertaux. Er traf alles an, als hätte er es erst gestern und nicht vor fünf Monaten verlassen. Die Birnbäume blühten schon, und der gute alte Rouault, der nun wieder obenauf war, kam und ging und brachte Leben auf den Hof.
Er hielt es für seine Christenpflicht, dem Doktor in seiner Trauer mit aller erdenklichen Rücksicht zu begegnen. Er bat ihn, doch ja die Mütze aufzubehalten, sprach nur mit gedämpfter Stimme zu ihm wie zu einem Kranken und stellte sich ganz zornig darüber, daß man nicht eigens für den Gast noch etwas Leichteres, einen Rahmpudding oder gedünstete Birnen, zubereitet hatte. Er erzählte allerhand Geschichten. Charles ertappte sich dabei, daß er darüber lachte; aber dann erinnerte er sich seiner Frau und wurde plötzlich wieder traurig. Als man jedoch den Kaffee brachte, dachte er schon nicht mehr an sie.
Je mehr er sich an das Alleinsein gewöhnte, um so seltener dachte er an sie. Das angenehme, ihm neue Gefühl der Unabhängigkeit machte ihm die Einsamkeit bald erträglicher. Jetzt