An den schönen Sommerabenden, um die Stunde, da die lauwarmen Straßen leer sind und die Dienstmädchen vor den Türen Federball spielen, öffnete er sein Fenster und lehnte sich hinaus. Unter ihm floß zwischen Brücken und Wehren, gelbviolett oder blau schillernd, der kleine Fluß, der diesen Teil von Rouen zu einem schmuddeligen Klein-Venedig macht. Am Ufer hockten Arbeiter, die sich die Arme im Wasser wuschen. An langen, aus den Speicherluken ragenden Stangen waren Baumwollsträhnen zum Trocknen aufgehängt. Vor ihm dehnte sich über den Dächern der klare, weite Himmel, an dem die Sonne rotleuchtend unterging. Wie schön mußte es jetzt daheim sein! Und wie frisch im Buchenwald! Er atmete tief, als spüre er die gute Landluft, die doch nicht bis zu ihm kam.
Er magerte ab; seine Gestalt ging in die Länge, und sein Gesicht nahm einen schmerzlichen Ausdruck an, der es beinahe interessant machte.
Wie nicht anders zu erwarten war, ließ er nach und nach aus Lässigkeit alle seine guten Vorsätze fahren. Einmal versäumte er die Visite, das nächstemal die Vorlesung, und schließlich behagte ihm die Faulheit so gut, daß er überhaupt nicht mehr hinging.
Er gewöhnte sich an, in die Kneipe zu gehen und mit Leidenschaft Domino zu spielen. Sich allabendlich in einem schmutzigen Lokal festzusetzen und mit schwarz punktierten Hammelknöchelchen auf Marmortischen herumzuklappern, schien ihm ein glorreicher Akt männlicher Freiheit, der ihn in seiner eigenen Ächtung steigen ließ. Das kam ihm vor wie die Einführung in die große Welt, wie der Zugang zu verbotenen Freuden, und schon wenn er eintrat, legte er die Hand mit einer fast wollüstigen Empfindung auf die Türklinke. Viel Verdrängtes in ihm entfaltete sich nun; er lernte allerlei Gassenhauer auswendig, die er bei Gelegenheit vortrug, begeisterte sich für Béranger, machte sich die Geheimnisse des Punschbrauens zu eigen und entdeckte schließlich auch die Liebe.
Dank dieser Vorbereitungen fiel er im medizinischen Staatsexamen glatt durch. Und am selben Abend erwartete man ihn daheim, um seinen Erfolg zu feiern!
Er machte sich zu Fuß auf, und als er am Eingang des Dorfes angelangt war, ließ er seine Mutter herbeirufen und beichtete ihr alles. Sie verzieh ihm, schob die Schuld auf die Ungerechtigkeit der Examinatoren, sprach ihm Mut zu und übernahm es, die Angelegenheit ins reine zu bringen.
Erst fünf Jahre später erfuhr Herr Bovary die Wahrheit. Da war schon Gras darüber gewachsen, und er regte sich nicht mehr auf, denn es war ja doch nicht denkbar, daß sein Sprößling ein Dummkopf sein sollte.
Charles setzte sich also wieder an die Arbeit; er wich nun keinen Augenblick mehr von seinen Büchern und paukte sich die Antworten auf sämtliche nur erdenklichen Fragen ein. Er bestand mit einer leidlichen Note. Das war ein Freudentag für seine Mutter und wurde mit einem großen Festessen gefeiert.
Wo sollte er nun seine Kunst ausüben? In Tostes. Dort gab es nur einen alten Arzt, auf dessen Tod Frau Bovary schon seit langem lauerte. Der alte Herr hatte denn auch kaum sein Bündel fürs Jenseits geschnürt, als sich Charles bereits ihm gegenüber als Nachfolger niederließ.
Doch nicht genug damit, daß sie ihren Sohn aufgezogen, ihm das Studium ermöglicht und eine Praxis für ihn gefunden hatte – nun mußte er auch noch eine Frau haben. Auch die fand sie für ihn, und zwar in der Witwe eines Gerichtsvollziehers aus Dieppe, die fünfundvierzig Jahre alt war und zwölfhundert Francs Zinsen jährlich zu verzehren hatte.
Obgleich Frau Dubuc, dürr wie eine Hopfenstange, alles andere als schön war und in ihrem Gesicht so viele Pickel sprossen wie Blüten im Lenz, war sie doch eine begehrte Partie, und Frau Bovary mußte, um zu ihrem Ziel zu kommen, erst eine ganze Schar anderer Freier aus dem Felde schlagen, wobei sie sehr geschickt sogar die Ränke eines Metzgermeisters vereitelte, dessen Werbung von der Geistlichkeit unterstützt wurde.
Charles hatte gehofft, sich durch die Heirat ein angenehmeres Leben zu schaffen, und sich eingebildet, er werde nun freier über sich und sein Geld verfügen können. Statt dessen zeigte sich bald, daß seine Frau der Herr im Hause war. Sie schrieb ihm vor, was er vor den Leuten sagen und was er nicht sagen durfte. Sie zwang ihn, jeden Freitag zu fasten und sich zu kleiden, wie sie es für richtig hielt. Sie war hinterher, daß er säumige Patienten mit Mahnungen verfolgte. Sie öffnete seine Briefe, überwachte seine Gänge, und wenn Frauen bei ihm in der Sprechstunde waren, horchte sie an der Wand.
Sie mußte jeden Morgen ihre Schokolade haben und nahm tausend Rücksichten für sich in Anspruch. Ewig hatte sie zu klagen: bald waren es die Nerven, bald die Brust, bald der Kopf. Das Geräusch von Schritten tat ihr weh. Ging man von ihr fort, stöhnte sie über die Einsamkeit, kam man zu ihr, so hieß es, man könne wohl nicht erwarten, sie sterben zu sehen. Wenn Charles abends heimkehrte, streckte sie ihre langen, hageren Arme unter der Bettdecke hervor, umschlang ihn und zog ihn auf den Bettrand nieder. Dann ging das alte Lied an: er vernachlässige sie, er liebe eine andere! Man habe ihr ja vorausgesagt, sie würde unglücklich werden! Zum Schluß bat sie ihn jedesmal um einen Löffel Sirup für ihre Gesundheit und um ein bißchen mehr Liebe.
2
Eines Nachts gegen elf Uhr wurden sie durch das Getrappel eines Pferdes geweckt, das gerade vor ihrer Haustür anhielt. Das Dienstmädchen öffnete die Bodenluke und verhandelte eine Zeitlang mit einem Mann, der auf der Straße stand. Er komme den Doktor holen und habe einen Brief mit. Nastasie stieg fröstelnd die Treppe hinab und öffnete umständlich die Schlösser und die Riegel. Der Mann ließ das Pferd stehen und folgte der Magd auf dem Fuße bis ins Schlafzimmer der Herrschaft. Hier zog er aus seiner grauen Troddelmütze einen in einen Lappen gewickelten Brief und überreichte ihn ehrerbietig dem Hausherrn, der sich mit dem Ellbogen auf sein Kopfkissen stützte, um ihn zu lesen. Nastasie stand am Bett und hielt das Licht; Frau Bovary blieb schamhaft der Wand zugekehrt liegen und ließ nur ihren Rücken sehen.
In dem Brief, der mit einem kleinen blauen Siegel verschlossen gewesen war, wurde Herr Bovary gebeten, sich sofort nach dem Hof Bertaux zu begeben, um ein gebrochenes Bein zu kurieren. Von Tostes bis Bertaux sind es über Longueville und Saint-Victor gut sieben Meilen. Die Nacht war dunkel. Frau Bovary fürchtete, daß ihrem Mann etwas zustoßen könne. Es wurde also beschlossen, daß der Stallknecht vorausreiten sollte. Charles wollte drei Stunden später bei Mondaufgang nachkommen. Man solle ihm einen Jungen entgegenschicken, der ihm den Weg zum Hof zeigen und das Tor öffnen könne.
Gegen vier Uhr morgens machte sich Charles, warm in seinen Mantel gewickelt, auf den Weg nach Bertaux. Noch schlaftrunken von der Bettwärme, ließ er sich durch den friedlichen Trott seines Pferdes wieder einwiegen. Als das Tier vor einer mit Dorngestrüpp bedeckten Grube, wie man sie an Ackerrainen findet, von selber stehenblieb, fuhr Charles aus dem Halbschlummer auf. Sogleich fiel ihm das gebrochene Bein wieder ein, und er suchte sich sämtliche Knochenbrüche, die er gelernt hatte, ins Gedächtnis zurückzurufen. Es regnete nicht mehr. Der Tag graute, und auf den Zweigen der kahlen Apfelbäume hockten unbeweglich die Vögel und plusterten ihre Federchen im kalten Morgenwind. Endlos dehnte sich das flache Land. Die Baumgruppen um die in großen Abständen verstreuten Höfe bildeten blau schwarze Flecken auf dieser weiten grauen Fläche, die sich am Horizont in der düsteren Tönung des Himmels verlor. Obwohl Charles ab und zu die Augen gewaltsam aufriß, versank er bald wieder in eine Art Dämmerzustand, in dem die jüngsten Eindrücke mit Erinnerungen verschmolzen, so daß er sich gleichsam doppelt empfand: er sah sich als Ehemann im Bett liegen und gleichzeitig wie einst als Student durch den Operationssaal schreiten. Der warme Dunst der Umschläge mischte sich in seinem Kopf mit dem herben Geruch des Morgentaus; er hörte das Klirren der Eisenringe an den Vorhangstangen der Krankenbetten und zugleich das Schnarchen seiner Frau . . .
Als er durch Vassonville kam, sah er am Grabenrand einen Jungen im Grase sitzen.
„Sind Sie der Doktor?“ fragte der ihn.
Als