Gustave Flaubert
Madame Bovary
Übersetzt
Hans Reisiger
Saga
Madame Bovary ÜbersetztHans Reisiger Coverbild / Illustration: Shutterstock Copyright © 1856, 2020 Gustave Flaubert und SAGA Egmont All rights reserved ISBN: 9788726539981
1. Ebook-Auflage, 2020
Format: EPUB 3.0
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1
Wir waren im Arbeitszimmer bei den Schulaufgaben, als der Direktor eintrat. Ihm folgte ein Neuer, der hoch „Zivil“ trug, und ein Schuldiener mit einem großen Pult. Wer gerade schlief, wachte auf, und alle sprangen von den Plätzen und taten, als seien sie mitten aus der eifrigsten Arbeit herausgerissen worden.
Der Direktor winkte ab: Setzen! und wandte sich dann an den Klassenlehrer.
„Herr Roger“, sagte er halblaut, „hier ist ein Schüler, den ich Ihrer Obhut empfehle. Er kommt zunächst mal in die Quinta. Wenn seine Leistungen und sein Betragen entsprechend sind, soll er zu den Großen aufrücken, zu denen er seinem Alter nach gehört.“
Der Neue, der in der Ecke hinter der Tür stehengeblieben war, so daß man ihn kaum sah, war ein Junge vom Lande, etwa fünfzehn Jahre alt und größer als wir alle. Er trug die Haare über der Stirn geradegeschnitten wie ein Dorfkantor und sah ganz verständig aus, nur sehr verlegen. Obgleich er nicht breitschultrig war, schien ihm seine grüne, mit schwarzen Knöpfen besetzte Tuchjacke doch zu eng unter den Achseln zu sein. Durch den Schlitz der Ärmelaufschläge schauten rote Handgelenke hervor, denen man ansah, daß sie für gewöhnlich unbedeckt waren. Seine Beine, die in blauen Strümpfen steckten, kamen aus einer gelblichen, von den Trägern übermäßig straff gespannten Hose. Er trug derbe, schlecht geputzte Nagelschuhe.
Man begann mit dem Vorlesen der Schularbeiten. Der Neue war ganz Ohr, aufmerksam wie bei der Predigt, und wagte weder die Beine übereinanderzuschlagen noch den Ellbogen aufzustützen. Als um zwei Uhr die Glocke läutete, mußte ihn der Klassenlehrer erst eigens auffordern, mit uns anzutreten.
Es war bei uns Brauch, beim Eintritt ins Klassenzimmer unsere Mützen auf den Boden zu schleudern, um die Hände frei zu haben; und zwar mußte man sie gleich von der Tür aus so unter die Bank feuern, daß sie bis an die Wand sausten und möglichst viel Staub aufwirbelten. Das gehörte zum „Schick.“
Entweder hatte der Neue dieses Manöver nicht bemerkt, oder er wagte nicht, gleich mitzumachen – jedenfalls war das Gebet schon beendet, als er seine Mütze noch immer auf den Knien hielt. Es war dies eine jener nicht näher zu bezeichnenden Kopfbedeckungen, die aus den verschiedenartigsten Elementen zusammengebaut sind, eine Mischung aus Bärenmütze, Tschapka, Filzhut, Pelzbarett und Zipfelmütze, kurz, eines jener bedauernswerten Dinge, deren stumme Häßlichkeit einen so unergründlich anblickt wie das Gesicht eines Idioten. Eiförmig und durch Fischbeinstäbchen versteift, kamen erst drei wurstartige Wülste, dann folgten, durch rote Einfassungen voneinander getrennt, rautenförmig Flicken aus Samt und Kaninchenfell, darüber eine Art Beutel, der oben von einem mit verzwickter Bortenstickerei überzogenen Vieleck aus Pappe abgeschlossen wurde, von dem an einer langen, unverhältnismäßig dünnen Schnur eine kleine Troddel aus Goldfäden herabhing. Die Mütze war neu, denn ihr Schirm glänzte noch.
„Steh auf!“ sägte der Klassenlehrer.
Er stand auf, seine Mütze fiel herunter. Die ganze Klasse fing an zu kichern. Er bückte sich, um sie aufzuheben. Ein Nachbar schubste sie mit dem Ellbogen wieder runter; er hob sie abermals auf.
„So trenne dich doch endlich von deinem Helm“, sagte der Lehrer, der ein Mann von Humor war.
Das darauf losplatzende Gelächter brachte den armen Jungen so aus der Fassung, daß er nicht wußte, ob er die Mütze in der Hand behalten, sie auf dem Boden liegenlassen oder sich auf den Kopf stülpen sollte. Schließlich setzte er sich hin und legte sie auf seine Knie.
„Steh auf“, begann der Lehrer wieder, „und sage mir, wie du heißt.“
Der Neue stieß stammelnd einen unverständlichen Namen hervor.
„Noch mal!“
Wieder ließ sich unter dem Hohngeschrei der Klasse das gleiche Silbengehaspel vernehmen.
„Lauter!“ rief der Lehrer. „Lauter!“
Da faßte der Neue einen verzweifelten Entschluß, riß seinen Mund überweit auf und schrie aus vollem Halse, als wolle er jemanden rufen: „Scharbovari!“
Mit einem Schlage erhob sich ein Spektakel und wuchs zum Orkan an; spitze Stimmen schrillten dazwischen, man heulte, bellte, trampelte und echote immer wieder: „Scharbovari! Scharbovari!“, bis das Getöse schließlich in einzelne Ausrufe verebbte und sich nach und nach legte. Nur hie und da zischte hoch auf einer Bank ein halbersticktes Lachen auf, ähnlich wie ein Schwärmer, der am Verlöschen ist.
Unter dem Hagel von Strafarbeiten, der auf die Klasse niederprasselte, trat wieder Ruhe ein, und nachdem es dem Lehrer endlich gelungen war, den Namen Charles Bovary zu verstehen, indem er ihn sich buchstabieren und dann nochmals vorsprechen ließ, befahl er dem armen Schlucker sogleich, sich auf die Faulenzerbank dicht vor dem Katheder zu verfügen. Charles Bovary setzte sich in Bewegung, zögerte jedoch noch, seinen Platz zu verlassen.
„Was suchst du denn?“ fragte der Lehrer.
„Meine Mü . . .“, brachte der Neue schüchtern hervor und schaute mit unruhigen Blicken um sich.
„Fünfhundert Verse die ganze Klasse!“
Dieser Satz, von wütender Stimme gedonnert, erstickte wie das Quos ego einen neuen Sturm im Keim.
„So gebt doch Ruhe!“ fuhr der entrüstete Schulmeister fort und wischte sich mit dem Taschentuch, das er unter seinem Käppchen hervorholte, den Schweiß von der Stirn. „Und du, der Neue da, du wirst mir zwanzigmal aufschreiben ,ridiculus sum‘.“ Dann fuhr er mit milderer Stimme fort: „Na, und deine Mütze wirst du schon wiederfinden; gestohlen hat sie keiner.“
Alles war wieder still. Die Köpfe beugten sich über die Hefte, und der Neue verharrte zwei Stunden lang in mustergültiger Haltung, ungeachtet dessen, daß ihm von Zeit zu Zeit eine Papierkugel, von einer Federspitze abgeschnellt, ins Gesicht flog. Er wischte sich jedesmal nur mit der Hand ab und blieb mit niedergeschlagenen Augen unbeweglich sitzen.
Am Abend holte er im Arbeitszimmer seine Ärmelschoner aus seinem Pult, brachte seinen kleinen Kram in Ordnung und liniierte sorgfältig sein Papier. Wir sahen, daß er mit großer Gewissenhaftigkeit arbeitete, alle Vokabeln im Wörterbuch nachschlug und sich viel Mühe gab. Sicherlich hatte er es auch hur dem guten Willen, den er bekundete, zu verdanken, daß er nicht in eine niedrigere Klasse kam, denn wenn er auch leidlich seine Regeln konnte, so war er doch ganz ungewandt in Stil und Ausdruck; er war nur durch den Pfarrer seines Dorfes in die Anfangsgründe des Latein eingeführt worden, weil ihn seine Eltern aus Sparsamkeitsgründen erst so spät wie möglich in die Schule geschickt hatten.
Sein Vater, Charles-Denis-Bartholomée Bovary, ein ehemaliger Stabsarzt, war um 1812 in Durchstechereien bei Rekrutenaushebungen verwickelt worden und hatte seinen Abschied nehmen müssen. Daraufhin hatte er seine persönlichen Vorzüge ausgenutzt und sich beiläufig in den Besitz einer Mitgift von sechzigtausend Francs gesetzt, die sich ihm in der Person der Tochter eines Mützenfabrikanten bot, der er mit seinem Auftreten den Kopf verdreht hatte. Ein schöner Mann, ein Renommist, der sporenklirrend daherkam, den Schnurrbart so trug, daß er in den Backenbart überging, die Finger stets mit Ringen schmückte und sich in auffallende Farben kleidete, vereinte er das Aussehen eines schneidigen Soldaten mit der schwungvollen Gewandtheit