In den letzten beiden Jahren vor der Wende erzählen die Texte immer häufiger auch von den Übergängen zwischen Deutschland und Rumänien sowie zwischen der deutschen Mutter- und der rumänischen Umgangssprache.5 Herta Müllers Prosa wird in diesen Jahren selbst ›übergängig‹, denn sie gehörte zwei konträren Gesellschaftssystemen an, erschien in einem jeweils völlig anders gearteten institutionellen Umfeld und richtete sich an die rumänische und die bundesdeutsche Leseöffentlichkeit, die verschiedener kaum hätten sein können. Die Erzählungen der mittlerweile in Berlin ansässigen Schriftstellerin standen in einem starken Spannungsverhältnis zu den Erfahrungswelten der bundesdeutschen Rezipient*innen, während die deutschsprachigen Leser*innen in Rumänien die realistische Intensität der Erzählwelten spürten, in denen sie sich wiederfanden. Dennoch waren die Texte auch und gerade wegen ihres ›übergängigen‹ Charakters in beiden Ländern erfolgreich; erst recht nach der Systemwende wuchs das Interesse daran immer weiter. Möglicherweise hing diese Erfolgsgeschichte nicht allein mit der sprachkünstlerischen Qualität der Texte sowie ihrer Funktion als Seismogramme seelischer Verletzungen in einer der repressivsten Diktaturen der Nachkriegszeit zusammen, sondern auch damit, dass ein transnationales Verständnis Europas und seiner Geschichte immer wichtiger wurde. Dazu gehören die Perspektiven deutschsprachiger Gemeinschaften wie der Banatschwaben – die zugleich auch rumänische Bürger unter der Diktatur sind und außerdem oft in den Nationalsozialismus verstrickt waren, was aber weder in der Bundesrepublik noch in Rumänien aufgearbeitet wurde – und die später großenteils verdrängten Deportationen in russische Arbeitslager. So verweist die Erzählung »Überall, wo man den Tod gesehen hat« aus dem Band »Barfüßiger Februar« auf die Shoah in der Maramuresch, einem Landstrich in Nordrumänien: »Da steht der große schwarze Stein, das Denkmal für die 38 000 Juden aus der Maramuresch, die im Mai 1944 nach Auschwitz deportiert und vergast worden sind.«6 Die Verbrechen des Nationalsozialismus werden nicht nur in diesem Text Müllers thematisiert7 – insbesondere auch diejenigen des eigenen Vaters. In der »Grabrede«, eine in »Niederungen« aufgenommene Erzählung, die schon 1980 in der Zeitschrift »Neue Literatur« erschienen war, erfährt die Tochter auf dem Friedhof anlässlich der Beerdigung ihres Vaters von einem der Sargträger, dass der Vater als Waffen-SS-Soldat an Massenerschießungen beteiligt gewesen war, an einer Massenvergewaltigung teilgenommenen und dabei eine Frau vorsätzlich brutal verletzt hat. Als SS-Soldat war der Vater aber auch in Deutschland gewesen, hatte an Gräueltaten teilgenommen und war, verstört, aber als Täter belastet, ins Banat zurückgekehrt; eine Aufarbeitung seiner Schuld hat es nie gegeben. Seine Tochter erlebt die Bestattung als eigene Beschämung und Verletzung, ja als Hinrichtung im Namen der Dorfgemeinschaft, die ihr eine doppelte Schuld auflädt: Zum einen jene des Vaters, zum anderen die für die Abweichung von der Dorfmoral (sie trägt zur Beerdigung eine durchsichtige Bluse). Der Übergang in den Tod – ihre Hinrichtungsszene – findet aber, wie sich am Ende herausstellt, nur im Traum statt.
Erzählte Übergänge gegen die definitorische Gewalt des Kollektivs
Die Zeit der überlappenden Publikationsorte in den zwei unterschiedlichen Systemen ist besonders spannungsreich. Nicht nur schreibt Herta Müller für zwei unterschiedliche Lesergruppen, sie publiziert auch in zwei ganz gegensätzlich strukturierten Literaturbetrieben. Während die Leserinnen und Leser im sozialistischen Rumänien vor dem Ausmaß der Systemkritik erschauderten und sich vielleicht zum Widerstand ermutigt fühlten, wirkten die Texte auf das bundesdeutsche Publikum albtraumhaft und surreal. Nach dem Umbruch 1989 sah sich Müller recht bald mit dem Vorwurf konfrontiert, ihr Schreiben sei mit dem Ende des realexistierenden Sozialismus obsolet geworden. Im späteren Essayband »Der König verneigt sich und tötet« hält sie dieser Kritik entgegen, der geradezu obsessive Wunsch nach Normalität infolge der deutsch-deutschen Vereinigung führe zur Ausblendung der DDR und weiterer sozialistischer Gesellschaften, ähnlich wie der Nationalsozialismus in der Nachkriegsliteratur kaum thematisiert wurde. Mit nicht ganz belastbaren Argumenten werde die angeblich nicht mehr zur Gegenwart gehörende sozialistische Gesellschaft als literarisches Sujet desavouiert: »Im Falle deutscher Themen ist die Gegenwart zum Glück elastisch, dehnt sich Jahrzehnte zurück. Keinem Roman, der weit zurückliegende deutsche Belange thematisiert, sei es Nachkriegszeit, Wirtschaftswunder oder 68er Jahre, wird von der Literaturkritik der Vorwurf des längst Vergangenen gemacht (…).«8 Herta Müller hat früh betont, dass die Erinnerung an die Securitate und ihre literarische Darstellung zu Deutschland gehört. Den wohlgemeinten Rat, »mit der Vergangenheit aufzuhören und endlich über Deutschland zu schreiben«,9 entlarvt sie als Begehren, einen homogenen ›deutschen‹ Erinnerungskanon aufrechtzuerhalten und ihn gegen irritierende Erfahrungen und Erinnerungen aus anderen Teilen des europäischen Kontinents oder der Welt abzuschotten. Diese werden als irrelevant eingestuft für ein imaginiertes Kollektiv, das schon in der zurechtweisenden Ansprache Normierungs- und Normalisierungsansprüche erhebt: »Bei uns in Deutschland«, so auch der Titel des Essays. Dabei ist die Poetik Herta Müllers schon im Frühwerk eine, die sich kollektiven Identitäten verweigert und stattdessen auf den Einzelfall setzt – auf Individuen, die Übergänge gestalten. Sie ist gespeist von der Erfahrung, wie ihre Familie als »›Mitwohnende‹ zum Spielball rumänischer Gastfreundschaft«10 wurde; sie zielt somit auf europäische und globale entangled memories in einem Deutschland, das nicht bloß »virtuelle Inder«11 zulässt. »Je mehr Augen ich für Deutschland habe, um so mehr verknüpft sich das Jetzige mit der Vergangenheit«12 – einer Vergangenheit, deren räumliche und thematische Eingrenzung heute nicht zuletzt dank der Postkolonialen Studien obsolet geworden ist. Durch den Fokus auf individuelle Erfahrung und Übergänge ist Müllers Poetik schon von Anfang an gegen Zentren und normalisierte Beobachtungsregimes ausgerichtet; das betont sie in der ironischen Umkehrung der ständigen Akzentkorrekturen, die sie in Deutschland erfährt: Weil sie von einem deutschen Werbeplakat an das schwarze ›Pech-Brot‹ des Totalitarismus erinnert wird, weist sie auf den Fehler hin, dass ›Pech-Brot‹ in der Anzeige »mit ae geschrieben« werde, »aber wie die Blumenverkäuferin schon sagte: ›Das macht ja nichts‹«.13
Herta Müller beschreibt ihren eigentlichen Anfang als Schriftstellerin nach dem Tod des Vaters wie folgt: »Ich hatte mich nicht mehr im Griff, mußte mich meines Vorhandenseins in der Welt vergewissern. Ich fing an, mein bisheriges Leben aufzuschreiben – woher ich komme, dieses dreihundertjährige starre Dorf, (…) dieser Vater mit seinem Lkw auf den holprigen Straßen, sein Suff und seine Nazi-Lieder mit den ›Kameraden‹.«14
Es geht Müller keineswegs nur um eine Revision des Selbstentwurfs, wenn auch die Zeilen verdeutlichen, dass das Schreiben durchaus eine persönliche Neuverortung in einem existenziellen Sinn ermöglichte. »Welt«, das »dreihundertjährige (…) Dorf« sowie die »Nazi-Lieder« werden genannt, später auch die Russlanddeportation der Mutter und die mechanische Arbeit im Staatssozialismus. Die Koordinaten der Selbstverortung sind breit gefasst: Die Welt als regulative Idee im Hintergrund, die Geschichte des 20. Jahrhunderts mit dem Aufstieg des Nationalsozialismus, dem Zweiten Weltkrieg, den zwei Systemen nach 1945 und dem Umbruch 1989 werden in den Erzählungen immer wieder zu Anhaltspunkten für die Verletzungen, die die Einzelnen davongetragen haben. Mehr noch, mit dem dreihundertjährigen Dorf ist eine der vielen großen europäischen Migrationsbewegungen angesprochen, die von West nach Ost verliefen und durch ihre Gegenläufigkeit zur