TEXT + KRITIK 155 - Herta Müller. Группа авторов. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Группа авторов
Издательство: Bookwire
Серия: TEXT+KRITIK
Жанр произведения: Документальная литература
Год издания: 0
isbn: 9783967074192
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ein anderer hat sie wiederholt, weil sie sich gut eignete für eine andere Situation, und nach einiger Zeit wurde aus dem Satz eine Redewendung und eine Art Parabel, die für alles mögliche gut ist. Solche Redewendungen hab ich oft zu Hause gehört, von meinen Eltern oder von meiner Großmutter. »Denk nicht dorthin, wo du nicht sollst«, zum Beispiel. Ist das nicht ein großartiger Satz? Das ist umständlich und unbeholfen, aber gerade dadurch wird der Satz so großartig und die darin ausgesprochene Warnung klingt gar nicht mehr so böse. Der Satz ist mehr als bloß eine Drohung, die Warnung schützt dich auch irgendwie, obwohl sie dir etwas verbietet. Wenn der Satz gelautet hätte, »Denk nicht das, was du nicht denken sollst«, dann wäre aus ihm sicher keine Redewendung geworden. Oder: »Am Rand der Pfütze springt jede Katze anders«. Das sind Sätze, die mir in bestimmten Situationen halfen, in denen ich nicht mehr weiter wusste. Sie haben mich jedenfalls nie getäuscht. Und irgendwie haben sie mich auch behütet. Von solchen Redewendungen gibt es jede Menge, und oft hörst du sie von sogenannten ›einfachen‹ Menschen. Das ist die Poesie der Ahnungslosen. Ich finde Redewendungen auch so schön, weil die, die sie verwenden, oft nicht wissen, wie poetisch diese Sätze sind. Das ist Alltag, und das berührt mich ja. Davon kann ich als Schriftstellerin profitieren.

      Ich würde, wenn es Ihnen recht ist, gerne das Thema wechseln, hin zum Schreiben und besonders hin zum Herstellen von Collagen. Ich möchte beginnen mit einer Frage, die die ganz unmittelbare ›Materialität‹ und vor allem auch die ›Körperlichkeit‹ des Schreibens betrifft. Welche Schreibutensilien nutzen Sie? Schreiben Sie im Stehen oder im Sitzen?

      Ich habe solchen Fragen oder Problemen noch nie eine Bedeutung beigemessen. Ich habe überhaupt keine Rituale. Ich würde auch nie sagen: Das kann ich so und nur so oder nur dort oder nur dann oder nur unter bestimmten Umständen. Solche Gedanken kommen mir nicht, weil ich, als ich anfing zu schreiben, in der Not geschrieben habe. Ich habe in der Fabrik, zwischen den Etagen, auf den Treppen, geschrieben, das heißt: Mein Schreibzeug ist gewesen, was ich zur Hand hatte. Es gab in Rumänien nicht einmal Papier. Ich habe Papier aus der Fabrik genutzt, irgendwelche einseitig beschriebenen Listen oder Formularblätter, die im Büro nicht mehr gebraucht wurden. Das schenkten mir die Buchhalter. Es gab auch keine Kopiergeräte; Schreibmaschinen mussten jedes Jahr für eine Schriftprobe zur Polizei gebracht werden, und man musste erklären, warum man sie benötigt und wer alles Zugang zu ihr hat. Also, da entwickelt man keine Allüren mit dem Werkzeug oder mit der Körperhaltung. Ich schrieb in der Haltung, in der es eben in diesem Moment ging, im Stehen, im Sitzen, krumm auf der Treppe in der Fabrik, oft so, dass keiner merkte, dass ich schrieb. Zu Hause versteckte ich das Geschriebene oder gab es jemand zum Verstecken, weil ich Angst hatte. Unter solchen Umständen achtet man weder auf die Art des Papiers noch darauf, ob man das Papier mit irgendeinem Bleistift oder mit was auch sonst immer beschreibt.

      Geändert hat sich nichts. Also ich schreibe, wie es gerade kommt. Wenn mir etwas einfällt, schreibe ich es mit der Hand auf, danach tippe ich es ab. Seit wir einen Computer haben, kann ich hundertmal etwas verändern, ohne dass ich Tipp-Ex oder ich weiß nicht was benutze. Aber ich denke gar nicht darüber nach. Ich habe den Eindruck, wie ich schreibe, wann und mit welchen Mitteln, ob ich morgens oder abends schreibe, das ist absolut unwichtig. Wichtig ist nur, was kommt raus, damit habe ich genug zu tun. Das ist schon schwierig genug. Damit habe ich oft Probleme, nicht aber damit, womit es geschrieben ist. Kugelschreiber beispielsweise, ich klaue Hotelkugelschreiber. Ich glaube, ich wäre zu schade für einen teuren Füllfederhalter, weil ich den nicht schätzen könnte, ich bin eine, ja, ich bin eine Banausin in diesen Dingen. Anders ist es allerdings beim Kleben, da achte ich etwa sehr auf das Papier.

      Es ist also ein Unterschied, ob man einen Text schreibt, egal ob mit Bleistift oder mit einem Kugelschreiber, oder ob man mit Schere und Kleber arbeitet?

      Ja, das ist ein enormer Unterschied. Beim Collagieren ist das Papier wichtig, weil man kleben muss. Und Farben sind wichtig, weil sie zueinander passen müssen. Eine Collage inszeniert sich auch. Das ist einer der Gründe, weshalb ich heute so ›schreibe‹, neben einer ganzen Reihe von anderen Gründen. Die haben sich über die Jahre verändert, manche waren mir wichtig, als ich angefangen habe, andere sind mir mit der Zeit immer wichtiger geworden. Heute sind Aussehen und Inszenierung des Ganzen für mich ausschlaggebend, eine Collage muss schön sein, sie muss ›schwingen‹, sie darf nicht plump wirken, und Bild und Text müssen zueinander passen. Darauf achtete ich früher nicht so sehr, ich habe sowieso viel mehr aus dem Stegreif heraus gemacht. Wenn ich heute ein Wort habe, aber sein Aussehen gefällt mir nicht, dann bastle ich es mir neu zusammen. Das hätte ich früher nicht gemacht. Die Größe eines Wortausschnitts ist ebenfalls wichtig. Für mich gilt: Wenn etwas zu groß oder zu klein ist oder die Farbe nicht passt, dann mache ich es mir passend.

      Was heißt, Sie machen es passend?

      Ich klebe ein Wort aus einzelnen Buchstaben zusammen. Dafür muss ich auf das Papier achten. Wenn man schon die Fugen zwischen den Buchstaben sieht, dann müssen diese zumindest schön aussehen, und das geht nicht ohne gutes Papier. Also, hier achte ich auf das Material. Das ist so wie bei jedem Handwerk. Die Handarbeit, das ist überhaupt das Besondere an dieser Art von Schreiben, die Handarbeit. Ich habe mir das immer gewünscht, ich wollte ja nie Schriftstellerin sein, ich habe mir immer gewünscht, Friseurin zu werden oder Schneiderin, als Kind schon. Ich kompensiere, glaube ich, mit dem Collagieren, dass ich es nicht zur Friseurin gebracht habe.

      Mit Studierenden habe ich vor Kurzem eine Collage aus Ihrem aktuellen Band »Im Heimweh ist ein blauer Saal« betrachtet. Der Text der Collage lautet: »Angst beruht auf Angst bis es weh tut, man passt sich an wie die Kröten ans Gras seit alle schweigen, hört man mitten am Tag in der Stadt die Wolken steigen.« Im Vorfeld habe ich den Studierenden von Ihrem Leben in Rumänien erzählt, vom Leben in einer Diktatur. Dennoch hat sich kein einziger der Studierenden in einer Wortmeldung auf diese Zeit in Rumänien bezogen. Aktuelles wurde angesprochen, ein chinesischer Student hat die Collage auf seine Situation in China bezogen, eine andere Studentin auf Ungarn.

      Aber Rumänien kommt ja auch gar nicht vor. Ich habe auch in meinen Romanen immer geschrieben: »das andere Land«. Die Repression ist in Diktaturen immer vergleichbar, sie mag in asiatischen oder osteuropäischen Ländern oder in muslimischen Gottesstaaten wie dem Iran stattfinden. Auch die Angst ist überall gleich. In all diesen Ländern darf nicht der Einzelne entscheiden, alles wird in der Zentrale entschieden, und wenn einer so durchgeknallt ist wie der Staatspräsident Chinas, dieser Xi Jinping, dann wehrt sich keiner, aus Angst vor Gefängnis oder Repressalien. Es sind stets dieselben Mechanismen wie eh und je. Was ich heute über China in der Zeitung lese, kenne ich, ich habe es tausendmal erlebt, und es geht immer weiter. Das ist ein Muster. Von daher ist es gut, wenn die Studenten diese Collage sehen und lesen und dann über China sprechen oder über Ungarn oder über ein anderes diktatorisches Land.

      Ich würde gern auf die Form der Collagen zurückkommen. Sie haben angedeutet, dass formale Aspekte im Laufe der Jahre zunehmend wichtiger geworden seien. Bereits in »Reisende auf einem Bein« von 1989 wird das Verfahren des Collagierens beschrieben. Veröffentlicht wurden die ersten Collagen dann erstmals zwei Jahre später in den Paderborner Poetikvorlesungen »Der Teufel sitzt im Spiegel. Wie Wahrnehmung sich erfindet«. Diese frühen Collagen, dann auch die aus der Postkartensammlung »Der Wächter nimmt seinen Kamm«, scheinen mir im Vergleich mit den neueren Collagen nicht nur optisch rauer, sondern auch textuell verschlüsselter gewesen zu sein. In dem Maße, in dem die von Ihnen eben angedeutete Formgebungsarbeit wichtiger geworden ist, scheinen die Collagen nun auch zugänglicher, Brecht hätte gesagt: kulinarischer, geworden zu sein. Dazu trägt die Verwendung von Rhythmen und Reimen ebenso bei wie die Farbgestaltung, zudem sind die collagierten Texte in gewisser Weise narrativer und verspielter geworden.

      Ich glaube alles, was man lange macht, verändert sich, weil man sich selbst verändert. Früher waren die Collagen-Texte viel länger, auch habe ich winziges Material verwendet, aus Zeitschriften wie zum Beispiel »Spiegel«, »Stern« und »Focus« oder aus Tageszeitungen. Inzwischen arbeite ich mit größerem Material. In den ersten Collagen ging es auch, wenn ich jetzt so darüber nachdenke, sehr ungefiltert um die Diktatur. Ich habe sie damals in Rom gemacht, in der Villa Massimo, 1990, da waren die Diktaturen in Osteuropa gerade implodiert. Inzwischen habe ich zu dieser Zeit eine größere Distanz und auch andere Bedürfnisse; ich habe mich auch ein Stück weit befreit,