In der Halle des Hotels standen wir vor Sams Bild. Es war nicht gut gemalt, aber gerade darum zeigte es primitive Dämonie. Sams Gesicht ist völlig ausdruckslos. Was war er für ein Mensch? Saß er so, wie das Bild ihn zeigt, am Fenster und betrachtete unbewegt die Katastrophe? Sprang er selbst in eines der Boote, um die Beute im geborstenen Laderaum zu prüfen? Wurde sein Treiben niemals durchschaut? Überlebte kein Zeuge die Strandungen?
Die Palmen am Strande beantworten diese Fragen nicht; ebensowenig die See, die sich über dem Riff zu Brechern formt und schäumend zerbricht, was ihr widerstehen will. Unzählige Fragen dieser Art heben sich mit den Brechern, die die Karibische See auf ihre Inseln wirft – Fragen, die in Gier und Mordlust, in Leid und Blut ihren Ursprung haben und ohne Antwort bleiben werden bis zum Jüngsten Tag.
Abends saßen wir in dem Schuppen einer Negerbar und tranken Rum mit Cola. Wir konnten unsere Füße nicht stillhalten, denn der Rhythmus des Kalypso war hinreißend. Er ist Volksgesang in bestimmter Taktfolge, in die hinein der Text vom Sänger improvisiert werden muß. Zu Zeiten des Karnevals werden Sängerkriege zwischen Kalypsosängern ausgetragen, bei denen das Publikum bis zur Raserei mitgeht. King Fighter, Lord Sivers, Big Sir Bell sind die Künstler-, besser Kriegsnamen berühmter Sänger. Glorious Cry war im letzten Jahr unbestrittener Matador gewesen. Ihn erwarteten die Schwarzen hier in schnatternder Ausgelassenheit.
Er kam in grauer Hose, rot-grün karierter Jacke, lila Schlips und mit einem Hut, der seinem jüngsten Sohn zu klein gewesen wäre. Er hatte ein kluges Pferdegesicht und aufmerksame Augen. Er strahlte vor Freude. Das Publikum war bereits von seinem Anblick begeistert.
Glorious Cry sang. Die Zuhörer belohnten ihn mit Toben, Aufspringen, Mitsingen, Tanzen. Wir waren in eine Vorhölle der Freude geraten. Wir lachten und klatschten ebenfalls.
Glorious Cry merkte sehr schnell, was dem Publikum gefiel, und machte es zum Refrain, in den alle einfielen:
Mathildá, Mathildá!
She take me money and go Venezuela!
Die Kapelle lärmte und alle sangen, wir auch, und lachten und tanzten und hüpften. Peter tanzte irgendwie mit Elga, ich tanzte irgendwie mit einer kleinen Schwarzen, alle tanzten irgendwie. Und Trommeln trommelten und Gitarren winselten und Tamburins rasselten und Hölzer schnarrten und gestopfte Trompeten jaulten. Der Schuppen zitterte.
Glorious Cry kam und fragte: »Sie frreuen sich?« Der Barbesitzer kam und fragte: »Sie frreuen sich, mistarr?«
Wir sagten »Ja!«, und die beiden grinsten, wie nur westindische Neger grinsen können.
Augen begannen zu rollen. Schweißgeruch breitete sich aus. Tanz, Tanz! Was sonst bleibt den Nachfahren jahrhundertelanger Sklaverei? Götter und Sitten blieben im afrikanischen Busch. Tanz, Tanz! Der Weiße Mann fing sie wie Tiere und brachte sie zu diesen Inseln. Tanz, Tanz! Sie waren entwurzelt und unfrei: Sklavenpeitsche! Tanz! Doch jetzt sind sie frei: Demokratie! Tanz! Sie sind immer noch entwurzelt. Tanztanz! Was der Weiße Mann will, ist das gut gewollt? Tanztanz! Was ihnen bleibt, ist vitale Kraft zum Leben. Tanztanztanz! Sonst nichts – nur Tanz in die Ekstase tiefsten Vergessens.
»Woran denkst du, wenn du tanzt?« fragte ich wie ein Tanzschüler – und wirklich, ich war einer.
»Tanztanztanz!« grinste die kleine Schwarze und tanzte wie eine Feder, die jeder Wind verweht.
Später standen wir schwitzend am Strand hinter dem bebenden Schuppen. Eine sanfte Brandung wisperte. Vollmondschein machte die Dinge ringsum unwirklich.
Peter fragte: »Na, Alter, warst du lustig mit ihnen?«
»Ja-ja-ja!« tanzte ich ihm vor, wie ich gelernt hatte.
»Oh!« entfuhr es Elga.
»Du darfst nur nicht über sie nachdenken dabei«, fügte ich hinzu und stand still. »Aber ich fürchte, das erwarten sie auch nicht von uns.«
Am nächsten Tage verließen wir Barbados. Knapp 24 Stunden später fiel unser Anker hier. Nun ist Weihnachten.
Und wir baden mit gewaltigem Wasserspritzen. Einige Negerkinder – Nackedeis in einem zerbrochenen Ruderboot, das in übergroßen, schiefen Buchstaben den Namen »Miraculous Image« trägt – werden durch unser Treiben angelockt und sehen ihm ehrfürchtig lächelnd aus sicherer Entfernung zu.
Bevor wir am Abend zur »Kinya« hinüberrudern, sitzen wir noch für eine Weile bei uns an Bord. Der Westhimmel beginnt der untergegangenen Sonne nachzuleuchten. Das bewegungslose Wasser der Bucht wird zu himmlischem Spiegel, über dem und in dem erster Sternenschein flimmert. Die Firma, bei der ich in Hamburg tätig war, schickte uns einen kleinen Tannenbaum, dessen Silhouette winzig vor dem großen Glanz von Himmel und Wasser steht.
Es ist Sitte hierzulande, daß Kinder am Heiligen Abend von Haus zu Haus ziehen und vor den Türen Musik machen. Sie dehnen ihre Tournee per »Miraculous Image« zu unserem Ankerplatz aus und spielen uns auf mit Gitarren und Tamburins. Bootsbänke klingen wie Urwaldtrommeln. Welche Sehnsucht, von schwarzen Kinderhänden erzeugt, steigt in die Stille Nacht.
An Land beginnt die Glocke von Port Elizabeth die Weihnacht einzuläuten. Wie bei einem Weihnachtstransparent erleuchten sich die Fenster der Kirche mit goldgelbem Petroleumlicht. Vor ihrem Schein sehen wir die Schwarzen zum Gottesdienst gehen. Schnell verscheppert der Glockenklang im Summen der Zikaden und im Singen der Baumfrösche – ein Geräusch so anhaltend gleichmäßig, daß man es nach einiger Zeit nicht mehr wahrnimmt. Stille umgibt uns.
Der Pfarrer dort drüben erzählt seinen Pfarrkindern nun die Weihnachtsgeschichte. »Es begab sich aber zu der Zeit …« Mit all der Intensität, zu der jeder Neger fähig ist, lauscht die Gemeinde, wie das Christkind in die Krippe gelegt wird. Die Mammies, deren Geburtenfolge ja unaufhörlich ist, bekommen jetzt gewiß schon ganz runde Kulleraugen bei der heiligen Vorstellung, wie schön, wie süß mit rosa Hand- und Fußballen dieses Baby in der Krippe gewesen sein muß. Und die Hütte, in der die Krippe stand, gleicht so sehr ihrer eigenen dort am Hang: vier Holzvvände, Stallaterne, Stroh, Kuh, Esel, Schaf. »Ihr werdet finden das Kind in Windeln gewickelt und in einer Krippe liegend …«
Später kommt schwach der Klang eines Chorals zu uns hergeweht. Aha – wir lächeln und machen uns bereit, zur »Kinya« hinüber zu rudern – jetzt dürfen sie singen, laut und mit verhaltenem Taktwiegen des Körpers, ganz erfüllt von der Geschichte, die auch das einfachste Gemüt versteht, und ganz hingegeben dem Takt, den auch der feierlichste Choral hat.
Bong-bong, bing-bang – so klang es schon wenig später vom Ufer her, als die Gemeinde aus der Kirche kam. In den Hütten gingen die Stallaternen an, und Musik, Musik klang über die dunkle Bucht.
Peter segelte am zweiten Weihnachtstage zurück nach Barbados. Auf Antigua wollen wir uns wiedertreffen, wohin er in Geschäften segeln wird. Wir gingen mittags zur Landungsbrücke, wo der Schooner aus Kingstown mit der Steelband erwartet wird.
Auf der Landungsbrücke drängt sich eine aufgeregte, buntgekleidete Menschenmenge. Männer, lässig unter zu kleinem Hut; Mädchen, das Haar: leg dich oder ich pomade dich, das Kleid: hauteng, besonders am Po; Mammies, einem baldigen Ereignis wohlgeschwellt entgegensehend; alte Herren, etwas zerlumpt doch Häuptlingshaltung; dazwischen Kinder, Kinder, sehr liebevoll und sauber angezogen.
Das alles wogt und wallt und schnattert durcheinander. Die Steelband kommt – haha, hoho! Während der Schooner anlegt, spielt die Steelband mit ihren aufgesägten Benzinfässern bereits an Deck. Und an Land beginnt sofort der Tanz. Der Opa tanzt, das Kleinkind tanzt, die Männer vergessen ihre Lässigkeit, die Mädchen die Schönheit ihrer Frisur, die Mammies das baldige Ereignis. In unbändiger Ausgelassenheit zieht die Bevölkerung, voran die Steelband, zum Schuppen des Feuerwehrautos. Der uralte Ford – springt sein Motor nicht mehr an? – wird herausgeschoben und das Fest beginnt.
Während des Krieges gab es keine Musikinstrumente. Leere Benzinfässer jedoch lagen