Unser Bordleben änderte sich nun von Grund auf. Um 08 Uhr – Elga hatte meist schon den Kaffeetisch gedeckt, wenn der Seegang es zuließ – sah man den Kapitän ein Duschbad nehmen: Lufttemperatur 26°, Wassertemperatur 23°. Nach dem gemeinsamen Frühstück, anfangs noch Toast und Eier, später Hartbrot, stets mit Kaffee, Marmelade und Dosenbutter, ging ein jeder seinen Aufgaben nach. Elga wusch ab und räumte auf, ich erledigte die zahlreichen kleinen Arbeiten, die ein segelndes Schiff fordert. Hier waren Fallen nachzusetzen, dort Scheuerstellen zu schützen; die Selbststeuerung mußte korrigiert und neu eingestellt werden, wenn sich der Wind verändert hatte; kleine Reparaturen standen immer auf der Warteliste.
Dann war es Zeit für die erste Höhenmessung der Sonne geworden. »Achtung – Null« und »Achtung – stopp« ging es, damit Elga die Unterlagen für ihre Rechenkünste hatte. Danach konnten wir uns in die Kojen legen, um Schlaf nachzuholen, wenn uns danach zumute war. Auch lasen wir viel in jenen paradiesischen Tagen.
Mittags kam der wichtigste Augenblick des Tages. Nach der Kulminationsbeobachtung der Sonne errechnete Elga das Mittagsbesteck – den »wahren Ort« nach geographischer Breite und Länge. Ein kleines Kreuz wurde in die Seekarte gezeichnet: in aller Unermeßlichkeit wußten wir nun, wo wir waren.
Mit Lesen oder kleinen Arbeiten verging der Nachmittag. Bei Sonnenuntergang »versammelte« sich die Besatzung im Cockpit, um ein oder zwei Gläser Wein zu trinken. Dabei sprachen wir über die Ereignisse des Tages, bewunderten die Farben des Abendhimmels, die sich im Meer vielfältig spiegelten.
Tag auf Tag, Nacht um Nacht zog über uns dahin. »Kairos« segelte und der Kurs lag an. Himmel und Wasser, Wolken und Gestirne: der Raum des Ozeans hatte uns aufgenommen. Wir lebten in einem Dasein, das wunschlos macht. Längst hatten wir uns an die Schiffsbewegungen gewöhnt. Das ging so weit, daß uns nun der Horizont als »schief« erschien, wenn wir aus der Kajüte an Deck kamen.
Die Linie unserer Mittagsstandorte zählte 16 Kreuze, 1700 Seemeilen lagen hinter uns, wir begannen schon spielerisch mit unserer Ankunftszeit auf Barbados zu rechnen, als sich das Wetter änderte. Aus Norden schob sich eine ungewöhnlich lange Schauerfront herauf. Als ihre ausgefransten Wolkenränder über uns standen, schwieg der Wind.
Der Passat wehte nicht mehr! Das Barometer fiel tiefer, als es üblich ist im Auf-und-ab eines tropischen Tagesablaufs.
Aus solchen Passatstörungen entstehen zur Jahreszeit der tropischen Wirbelstürme oftmals Hurrikane. Außerhalb der Jahreszeit ziehen die Störungen meist harmlos mit böigem Schauerwetter weiter. Seit 69 Jahren hat man nur drei Wirbelstürme außerhalb der Jahreszeit zwischen Mai und Oktober in diesem Seegebiet festgestellt.
Und wenn diese Störung nun den vierten in 70 Jahren einleiten würde? Obwohl keine Annäherungszeichen eines Hurrikans sichtbar wurden, lähmte diese Frage unser ganzes Denken. Ich schlug Sturmsegel an.
Nach einer wilden Nacht mit Schauerböen aus nördlichen und nordwestlichen Richtungen und entsprechenden Segelmanövern, die uns viel Schlaf nahmen, wurden die Winde flau und umlaufend. Wir mußten Ruderwachen gehen.
Und das Meer war nicht mehr dunkelblau und brechergeschmückt unter dem Wehen des Windes. In bleierner Trägheit dünte es, ließ »Kairos« hilflos rollen. Erbarmungslos schlugen Blöcke und Segel. Jeder Schlag zitterte durchs ganze Schiff. Grenzenlosigkeit dehnte sich ringsum, da nichts in unserer Nähe geschah. Bleiern das Meer, gläsern der Himmel, der Horizont ausgelöscht. Gewitterwolken drohten. Sie zogen nicht, sie standen tags im Sonnenlicht, nachts in Mondschein und Wetterleuchten. Über ihnen schwebte Federbewölkung von Süd herauf. So blieb es tagelang.
Unsere Müdigkeit wuchs. Die Ruderwachen wurden zur Qual. Wir hatten diese Wetteränderung inmitten eines Gebietes, das regelmäßigen Passatwind während des ganzen Jahres aufweist, nicht erwartet. Sie traf uns völlig unvorbereitet, was unsere Umstellung erschwerte. Gestern noch in einem Paradies geträumt und heute in der Hölle aufgewacht: so war’s! Wir machten uns in suggestiver Eindringlichkeit klar, daß jeder Meter, jeder Meter und wieder jeder Meter das Schiff dem Ziele näher brachte und daß es unsere Aufgabe sei, jeden dieser Meter so zu steuern, als wäre er eine Seemeile.
So saßen wir am Tage in goldener Hitze und während der Nacht im blauen Wetterleuchten bewegungsloser Gewitter, Wache um Wache, während »Kairos« über eine Fläche torkelte, die aus zähem Öl gemacht schien. Wir konnten nichts tun als sitzen und steuern, dann schlafen, dann essen, dann wieder sitzen und steuern – Tag für Tag.
Unsere Müdigkeit nahm überhand. Hatte mich Elga abgelöst, so schlief ich bereits, bevor ich überhaupt das Bettzeug meiner Koje fühlte. Und kaum war ich eingeschlafen, so schien es, weckte mich Elgas Ruf. Waren vier Stunden vergangen? Ja – sie waren in todähnlichem Schlaf wie zu Sekunden geworden. Benommen stieg ich an Deck.∗
»Wind?«
»Kaum. Ein Knoten Fahrt«, sagt Elga.
Ich übernehme die Pinne, beginne auf den Kompaß zu starren.
»Ich hab’ eine Menge Bi-dem-Winder gesehen«, erzählt Elga stockend, »weißt du, diese Quallen, die segeln. Blau und rosa sind sie und fast durchsichtig. Wie die wohl von unten aussehen?«
Ich versuche, das gedanklich zu erfassen. »Keine Ahnung … sie treiben …« Ich blicke über die dünende See. Die Segel schlagen, der Mast zittert, die Blöcke poltern.
»Zum Abendbrot mache ich einen Eintopf«, fährt Elga aufmunternd fort, wobei ihr fast die Augen zufallen.
Sie steigt zur Kajüte hinab. Da unten ergeht es ihr so wie mir: sie wird schon schlafen, ehe sie das Bettzeug fühlt. Und mein Ruf nach vier Stunden wird wie nach vier Sekunden kommen.
Während der Wache, die wiederum keinen durchstehenden Wind brachte, fing ich mit der Pütz einige vorbeitreibende Bi-dem-Winder. Als ich Elga dann wecken mußte, fand sie die Tiere und konnte sie einer eingehenden Betrachtung unterziehen. An ihrer Unterseite hatten sie lange, nesselnde Fangfäden. Elga freute sich. Es half ihr etwas über die Müdigkeit hinweg.
Wind? – immer noch kein Wind. Einige Stunden später: Wind? – immer noch kein Wind. Einige Tage später: Wind? – immer noch kein Wind. Nur immer ein Hauch – aus Ost, aus Nord, aus Süd und West: falsche Versprechungen, die den Rudergänger zu einsamer Verzweiflung trieben.
Achteraus, wo früher einmal das Kielwasser geleuchtet hatte, zeigten sich jetzt nur einige lächerliche Blasen. Voraus, wo die Bugwelle bis zum Deck hinaufgesprüht hatte, geschah nichts als unbeholfenes Plantschen. Sollten wir schreien in Verzweiflung und Einsamkeit, zusammenbrechen unter der Last des Nichts? Wie stark waren eigentlich unsere Nerven?
Wir sprachen miteinander. Unsere Worte drangen durch die Sphären unserer Müdigkeit und weckten Zuversicht. Sie blieb stärker als die äußeren Zeichen unserer Fahrt. Sie mußte uns auch ohne Bugwelle, die gischtet, und ohne Kielwasser, das leuchtet, dem Ziele näher bringen. Durch sie wurden die Meter wirklich zu Seemeilen. Wir kamen ja immer noch voran, langsam zwar – Herrgott, wie langsam! – aber voran. Am zehnten Tage, nachdem Schauer und Böen – und unsere große Angst – die flauen Winde eingeleitet hatten, kam endlich der Passat wieder. Wir waren nun 26 Tage auf See – doch hatte das geringe Bedeutung.
Von Bedeutung war, daß sich der Wind aus Nordnordost stärkte. Die Ruderpinne war nicht mehr ein Stück totes Holz. Die schlaffen Segel formten sich, wölbten sich, begannen zu arbeiten. Eine Bugwelle zauberte neben die Bordwände Schaumstreifen, die sich verdichteten, zu knistern anhuben und schließlich eine leuchtende Spur hinterließen. Der Passat erreichte seine alte Kraft. Die schweren Wolken hoben sich. Aus ihren bewegungslosen Massen lösten sich kleine Schönwetterwolken und zogen, zogen mit dem erwachten Winde.
Wir fühlten Erleichterung.
Uns wurde alles neu geschenkt, der Tag, die Nacht, das Schiff, die