Schwabens Abgründe. Группа авторов. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

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Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783842523494
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sucht sich wieder ihren Weg.

      »Kennen Sie den Mann?«

      Ich kann meinen Blick nicht von dem Foto lösen. Von den Augen des Mannes. So unverschämt grün. Böses Grün.

      Der Polizist schiebt mir ein zweites Foto hin. Auch dort trage ich das Hochzeitskleid. Der Mann ist ebenfalls drauf. Und eine Frau. Meine Mutter.

      »Ihre Ehe war nicht glücklich«, sagt der Polizist. »Zumindest nach der Aussage Ihrer Mutter. Und nach Aussage der vielen Krankenhausberichte.«

      Nun schaue ich vom Foto auf und den Polizisten wieder an. »Krankenhaus?«

      Er schiebt ein Blatt über den Tisch. »Quetschungen. Zwei gebrochene Rippen. Gebrochene Finger. Gebrochene Nase …«

      »Hören Sie auf!«, schreie ich. »Was soll das? Ich kenne den Mann nicht. Ich wurde entführt und musste mich selbst befreien. Weil die Polizei dazu nicht in der Lage war.«

      Ich muss würgen. Schlucke dagegen an. Ich will mich nicht erbrechen. Nicht hier. Auf den Tisch mit dem grauen Lack. Vor dem Polizisten und der Psychologin. Und dem Polizisten an der Tür. Vielleicht sind sie gar nicht die, für die sie sich ausgeben. Vielleicht ist es eine Falle, und sie stecken mit dem Monster unter einer Decke. Aber meine Mutter …

      »527 Tage«, sage ich. »Ich wurde 527 Tage gefangen gehalten. In einem Keller. Von dem Mann mit der Sturmmaske.«

      »Frau Krüger.« Der Polizist. »Sie wurden nicht entführt. Es gab keinen Mann mit einer Sturmmaske. Es gab nur Ihren Ehemann, der Sie über eine lange Zeit misshandelt hat. Ihre Mutter sagte uns, sie habe viele Monate keinen Kontakt mehr zu Ihnen herstellen können, da Ihr Ehemann es verboten hätte. Ihre Mutter hat sogar Anzeige erstattet. Aber Sie, Frau Krüger, haben Ihren Mann immer wieder verteidigt und gesagt, es wäre alles ein Missverständnis.«

      »Nein. So war das nicht.«

      »Und Sie sind auch nicht direkt nach Ihrer Flucht hierhergekommen, Frau Krüger. Wo waren Sie? Seit dem gestrigen Tag?«

      »Nein, nein, ich bin nicht verheiratet. Das ist eine Lüge!«

      Das Rauschen in meinen Ohren wird lauter. Wieder rollt die Welle auf mich zu. Dunkel. Groß. Laut.

      »Sie haben Ihren Mann erstochen, Frau Krüger. Mit einem stumpfen Messer. Etwas anderes haben Sie nicht gefunden, denn er hatte alle scharfen Gegenstände aus der Wohnung entfernt. Das Besteck empfand er wohl nicht als Bedrohung.«

      Die Welle ist über mir. Nimmt sämtliches Licht. Nimmt mir die restliche Luft.

      »Sie haben neun Mal zugestochen. In den Hals.«

      Die Welle bricht. Alles wird schwarz. Es ist vorbei.

       Maribel Añibarro

       Assassine

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       Stuttgart

      Ich wurde dazu erzogen zu morden. So wie andere Eltern ihren Kindern beibringen, mit Messer und Gabel zu essen, erhielt ich meine Lektionen, wie ein Messer in meiner Hand den Lebensfaden der Zielperson lautlos und rasch durchtrennt. Und wie eine Glock zerlegt, gesäubert, zusammengesetzt und präzise abgefeuert wird. So wie andere Kinder in die Tanzschule geschickt werden, machte man mich mit allen Kampftechniken vertraut, die darauf ausgerichtet sind, größtmögliche Schäden am Körper meines Gegenübers zu verursachen – bestmöglich mit letalen Folgen. So wie andere Eltern ihre Kinder ermutigen, Freundschaften zu schließen, tätowierte meine Mutter mir in den rechten Oberarm: Nur die Familie zählt. So wie andere Kinder unterstützt werden, einen Schulabschluss zu machen, bestimmte der Patron, dass ich keinen brauchen werde.

      Ich gehöre zur Familie der Assassinen, mit dem Hauptsitz in einer Villa auf dem Stuttgarter Killesberg. Dafür brauche ich nur eine Ausbildung – und die soll heute zum Abschluss gebracht werden.

      Es ist so weit. Sie rufen nach mir. »Bellona«, rufen sie – die Göttin des Krieges.

      Ich trete vor den Spiegel, richte meine blonde Pagenschnitt-Perücke und das dunkelblaue Kostüm und sehe mich das letzte Mal in meinem Zimmer um. Ein flüchtiger Kontrollgriff an die rechte Blazertasche, die durch ihren voluminösen Schnitt verbirgt, dass sich etwas darin befindet, gibt mir mehr Sicherheit als all die Jahre meines Drills. Es ist das Erbe meines Großvaters. Das Einzige, was ich je von ihm gewollt habe.

      Mein Bewacher vor der Zimmertür tritt zur Seite, als ich diese öffne. Sie trauen mir nicht, bevor sie nicht etwas in der Hand haben, das mich für immer an die Familie bindet. Deshalb werden sie heute alles auf Video aufnehmen. Ein zur Initiation gehörendes Ritual, so sagen sie. Aber ich weiß, was wirklich dahintersteckt. Sollte mir trotz aller Maßnahmen, die sie über die Jahre hinweg ergriffen haben, doch der Defekt anhaften, werden sie das Video nicht der Polizei zuspielen. Nein, es wird ganz altmodisch im Briefkasten des Vaters landen, der ab heute den Rest seines Lebens um seinen Sohn – meine Zielperson – trauern soll.

      Der Defekt. Ich war sieben Jahre alt, als mein Cousin Viktor den Auftrag erhielt, meinen älteren Bruder zu exekutieren. Denn mein Bruder hatte diesen Defekt – er hatte ein Gewissen, und er wollte aussteigen.

      »Lektion Nummer eins«, haben sie zu mir gesagt.

      An diesem Tag habe ich die Verbindung meiner Gedanken zu meiner Mimik gekappt. Meine wahren, verräterischen, für mich lebensgefährlichen Gedanken befinden sich seitdem in den Tiefen meines Daseins, niedergedrückt von der Gewissheit, dass das Bestreben, aussteigen zu wollen, dort endet, wo sich mein Bruder befindet. Aber meine Gedanken existieren, sie sind lebendig und gierig, an die Oberfläche vorzudringen, um sich zu zeigen.

      Ich gehe die Treppe zur Halle im Erdgeschoss hinunter und weiß, dass es nach heute kein Zurück mehr geben wird.

      Dort steht sie, die Familie. Mein Vater erwartet mich an der untersten Treppenstufe. Seine Gesichtszüge lassen keinen Zweifel daran, was er von mir erwartet. Mach mir und deiner Familie Ehre, wage es nicht, mich zu enttäuschen, erweise dich würdig. Er küsst mich auf die linke, dann auf die rechte Wange und reicht mich weiter. Erst meine Onkel, dann meine Cousins und zum Schluss meine Mutter. Sie drückt mich an sich und sagt: »Ich bin so stolz auf dich.«

      Wie kann sie nur.

      Mein Cousin Viktor tritt vor. »Hier, nimm, das wirst du brauchen.« Er drückt mir eine Mappe mit Unterlagen und eine Visitenkarte in die Hand.

      Luxusimmobilien für gehobene Ansprüche, lese ich darauf. Tamara Gerling, mein Projekt-Name.

      »Und das«, fährt Viktor fort. »Ein Messer ist die beste Waffe für das erste Mal. Sieh ihm dabei in die Augen. Es wird dir gefallen, was du zu sehen bekommst.«

      Ich imitiere sein Lächeln, das muss reichen. Alle wissen es: Mit dem Stoß der Klinge in das Herz meiner Zielperson sickert deren Blut aus den Herzkammern unbrauchbar in den Körper und meine ebenso unbrauchbare Unschuld aus mir heraus. Gleichzeitig wird das unwiderrufliche Band geknüpft, das mich zu einer Assassine macht.

      Ich stecke das Messer in die mit Carbonfaser verstärkte Innentasche meines Blazers und halte meine Hand in Richtung meines Onkels fordernd auf. Er betreibt eine Autovermietungsfirma und ist für den Fuhrpark der Familie zuständig. »Schlüssel«, sage ich nur.

      Aus dem Augenwinkel sehe ich, dass meinem Vater mein fordernder Ton gefällt. Er nickt meinem Onkel zu. Aber ich sehe noch etwas anderes, während mir der Autoschlüssel in die Hand gedrückt wird. Mein Vater gibt meinem Cousin ein Zeichen. Es ist das charakteristische Nicken, das nur dem Patron zusteht, das dem Empfänger erlaubt, bis zum Äußersten zu gehen.

      Endlich bin ich allein. Es ist eine trügerische Kontrolle über mein Leben, denn natürlich folgen sie mir in sicherem Abstand, während ich in einem Mini quer