Aber es ist nur ein weiterer Polizist, der hereinkommt. Nun steht auch die Psychologin auf, kommt um den Tisch herum und berührt meine Schulter. Der Polizist bleibt stehen, sagt etwas, das ich nicht verstehe. Ich starre durch den Spalt der Tür nach draußen. Da sehe ich sie.
»Mama!«, schreie ich.
Ich will zur Tür, doch Hände legen sich auf meine Oberarme, packen zu. Ich will die Hände abschütteln, will raus hier.
»Das ist meine Mutter!«
Meine Mutter sieht mich an. Sie schlägt die Hände vor den Mund. Ich sehe, dass sie geweint hat, und die Falten um ihre Augen sind so viel tiefer als beim letzten Mal, als ich sie gesehen habe.
»Lassen Sie mich!«, schreie ich.
Aber die Frau lässt mich nicht los. Die Psychologin. Sie redet mit mir. Ich höre nicht, was sie sagt, dafür ist das Rauschen in meinen Ohren viel zu laut.
»Mama«, wimmere ich, sinke auf den Stuhl. Ich kann nicht mehr, ich … ein und aus. Atmen. Ruhig.
Der Polizist verlässt den Raum, schließt die Tür, und meine Mutter ist aus meinem Sichtfeld verschwunden.
»Es ist alles in Ordnung«, höre ich die Frau sagen. »Wir brauchen nicht mehr lange. Alles ist gut. Nur noch ein paar Fragen, dann sind wir fertig.«
Ihre sanfte Stimme, ihr leiser Ton und die Vertrautheit, als würden wir uns seit Jahren kennen, lassen mich ruhiger werden. Wieder ins Hier und Jetzt zurückkommen. Ich starre auf die Tischplatte. Betrachte die Kratzer im Lack des Tisches. Dicker grauer Lack. Überdeckt das, was darunter ist. Ein Ring aus Wasser befindet sich dort, wo am Anfang der Becher gestanden hatte, und wartet darauf, dass ihn jemand wegwischt.
»Frau Martin?«
Ich schaue auf, in die Augen des Polizisten.
»Kommen wir auf Ihre Flucht zu sprechen. Wie haben Sie es aus dem Keller geschafft? Was ist passiert?«
Das Rauschen wird wieder lauter. Der Luft in diesem Raum fehlt der Sauerstoff. Es ist so anstrengend. Als zähle ich. So wie ich es auch die letzten 527 Tage gemacht habe. Zählen macht mich ruhiger.
»Irgendwann ist mir bewusst geworden, dass niemand kommen, niemand mich retten wird«, sage ich und höre ihn selbst, den Hauch der Traurigkeit, der Enttäuschung. »Mir wurde klar, dass nur ich mich retten kann.«
Der Polizist nickt, so, als wollte er meine Gedanken bestätigen. »Und weiter?«, fragt er.
Ich schließe die Augen, begebe mich zurück. Zu ihm. In den Keller. In die Kälte. »Immer, wenn er nicht da war, mich nicht von der Tür aus beobachtet hat, habe ich die Backsteinwände untersucht. Ich habe nach etwas gesucht, womit ich mich befreien kann. Nach etwas, das ich gegen ihn einsetzen kann.« Ich zeige dem Polizisten meine Hände mit den blutigen Fingerkuppen. »Ich habe immer wieder versucht, einen Stein zu lösen. Um ihm diesen Stein auf den Kopf zu schlagen. Um ihn außer Gefecht zu setzen … für einen Vorsprung. Um fliehen zu können. Aus dem Kellerloch. Ich wusste, wenn ich das Haus verlassen kann, dann werde ich Hilfe finden.«
Die Erinnerung bringt den abgestandenen, modrigen Muff des Kellerloches zurück. Und ich bemerke, dass meine Hände, die den weißen Plastikbecher umschließen, ihn zusammendrücken und er zu reißen droht. Ich löse sie vom Becher und verstecke sie unter dem Tisch.
»Aber?«, fragt er.
»Aber was?«
»Gehe ich richtig in der Annahme, dass Ihr Vorhaben nicht funktioniert hat?«
Mein Hals ist so trocken. Ich schaue auf den Plastikbecher. Er ist leer. Ich schlucke. »Diese blöden Steine saßen fest. Ich habe keinen einzigen rausbekommen. Dabei habe ich mir die Fingerkuppen abgeschürft bei dem Versuch, den Mörtel rauszukratzen.«
»Was ist dann passiert?«, fragt er.
»Eines Tages hat er die Grenze überschritten.«
»Wie meinen Sie das?«
»Er ist näher gekommen.«
Ich sehe, dass sich seine Augenbrauen wieder bewegen, leicht zusammenziehen. Vermutlich versucht er, sich das alles vorzustellen, das Bild zu sehen. Das Bild, das ich gesehen habe. Aber kann sich das überhaupt jemand vorstellen, wenn er es nicht selbst erlebt hat? Es gespürt hat?
»Davor hatte er sich dicht hinter mich gestellt, mich aber nie berührt. Doch dann ist er einen Schritt weiter gegangen. Er hat mich mit seinem Körper gegen die Wand gepresst. Minutenlang.«
Ich warte auf seine nächste Frage, warte, dass er wissen will, was danach passiert ist. Doch er fragt nicht. Er schaut mich nur an.
»Meine Bemühungen, einen Stein zu lockern, wurden ab diesem Moment noch größer.« Ich spüre die Tränen, die sich so hartnäckig ihren Weg suchen. Tränen haben noch nie geholfen. Tränen retten einen Menschen nicht. Ich hole die Hand unter dem Tisch hervor und wische sie energisch weg.
»Nein, ich habe keinen Stein lösen können, aber von einem ist ein Stück abgebrochen. Ein Keil. Eine Waffe. Ich habe das Ding in meiner Faust versteckt und gewartet. Gewartet, bis er mich wieder an die Wand gedrückt hat. Ich habe ihn gewähren lassen. Und als er von mir abgelassen hat, habe ich mich umgedreht und ihn geküsst. Er war wie versteinert, überrascht oder angewidert, ich weiß es nicht. Während er dastand und mich angestarrt hat, habe ich dieses Stück Stein noch fester gepackt und damit zugeschlagen.«
»Zugeschlagen?«, fragt er.
»Gestochen«, korrigiere ich.
»Wohin?«
»In den Hals.«
»Einmal?«
Ich schüttle den Kopf.
»Wie oft?«, fragt er.
Ich spüre den Stein in meiner Hand, spüre das Blut, wie es über meine Finger läuft. »Ich … ich weiß es nicht.«
»Und der Mann trug die Sturmmaske?«
Ich nicke.
»Und nur die Augen waren frei?«
»Ja. Warum fragen Sie?«
»Alles ist wichtig. Jedes Detail.«
Ich nicke erneut, auch wenn es mich unendlich viel Kraft kostet.
»Was ist dann passiert?«
»Ich bin gerannt. An ihm vorbei. Aus dem Raum. Im Flur hing der Mantel an einem Haken. Ich konnte ja nicht in dem Fummel … ich bin aus dem Haus gerannt.«
»Direkt hierher?«
»Ja.« Was ist das für eine Frage? Ich bin doch da.
»Wo wohnen Sie, Frau Martin?«
»Wie bitte?« Meine Gedanken wirbeln. Der Kerker. Der Mann mit der Sturmmaske. Die Stille. Der Stein. Die Polizei.
»In welcher Straße wohnen Sie?«
»In der Erikastraße 41.«
Er schaut in die Akte, die vor ihm auf dem Tisch liegt. Eine gefühlte Ewigkeit vergeht, bis er wieder nach oben und mich anschaut.
»Sind Sie sicher?«
Ich brauche einen Moment. Dann lache ich. Es klingt hysterisch. Das höre ich selbst. »Natürlich bin ich sicher.«
»Wohnen Sie nicht in der Bonhoefferstraße 19?«
Bonhoefferstraße? Ich versuche, meine verfluchten Gedanken zu sortieren, um zu verstehen, was hier läuft.
»Ist es nicht so, dass Sie Martin hießen, bevor Sie geheiratet haben, Frau Krüger?«
Seine Worte dringen wie durch Watte zu mir hindurch. Verständlich und doch unverständlich.
Er