Kinderstation. Marie Louise Fischer. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Marie Louise Fischer
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Документальная литература
Год издания: 0
isbn: 9788711718988
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gestorben war.

      Schlank und sehr aufrecht stand Hagemann da. Er wirkte ruhig und beherrscht. Aber mit unheimlicher Regelmäßigkeit schlug er den Hut, den er abgenommen hatte, gegen sein rechtes Knie.

      Dr. Arno Vogel grüßte mit einer knappen Verbeugung. »Herr Präsident, wollen Sie mir bitte in mein Arbeitszimmer folgen?«

      »Nein«, erwiderte Hagemann unfreundlich, »das will ich nicht. Was ich Ihnen zu sagen habe, kann hier geschehen. Ich verlange eine Erklärung von Ihnen, Herr Doktor.«

      »Das ist Ihr gutes Recht. Wenn ich gewußt hätte, daß Sie schon zurück sind, dann wäre ich selbst …«

      Hagemann schnitt ihm mit einer heftigen Handbewegung das Wort ab: »Was ist mit meinem Kind geschehen?«

      »Das Neugeborene wurde abends in die Klinik gebracht. Der diensthabende Arzt, Dr. Eichner, untersuchte es sofort. Die Blutprobe ergab …«

      »Weiß ich, weiß ich alles. Aber Sie, Herr Chefarzt, haben meinem Kind eine tödliche Spritze gegeben.«

      Dr. Vogel blieb ruhig. »Sie haben Herrn Dr. Eichner selbst gesprochen?« fragte er.

      »Ja. Und ich bin ihm dankbar. Denn von ihm habe ich wenigstens die Wahrheit erfahren.«

      In Arno Vogels Gesicht zuckte es jetzt. »Sie haben keinen Grund zu der Annahme, daß die Leitung der Kinderklinik etwa die Absicht gehabt hätte, Ihnen die Wahrheit zu verschweigen.«

      »Da bin ich nicht ganz sicher«, erwiderte Hagemann heftig.

      Das Gesicht des Chefarztes wurde dunkelrot. »Herr Präsident, bei allem Verständnis für Ihren Schmerz … Ich bitte Sie sehr, sich zu mäßigen. Sie werden von Dr. Eichner erfahren haben, daß ich es war, der Verdacht schöpfte, daß ich es war, der eine Untersuchung eingeleitet hat.«

      »Sie haben die schuldige Krankenschwester sofort entlassen, nehme ich an?«

      »Nein, Herr Präsident. Dazu hatte ich keine Veranlassung.«

      Die Stimme des Präsidenten wurde schneidend: »Was? Der Tod eines Kindes hat Ihnen nicht genügt …«

      »Die Schuld der Schwester ist nicht erwiesen.«

      »Aber das ist ja ungeheuerlich.« Hagemann begann wieder mit dem Hut auf sein Knie zu schlagen. »Dr. Eichner sagt doch ganz klar und deutlich, daß die Schwester das falsche Medikament aus dem Schrank genommen hat.«

      »Dr. Eichner ist kein unbefangener Zeuge. Die Schwester ihrerseits behauptet, Eichner habe das Medikament herausgeholt.«

      Hagemann begann mit langen Schritten in der Diele hin und her zu gehen. Dann blieb er vor Dr. Vogel stehen und sagte leise: »Sie wollen also Ihren Kollegen, Ihren Oberarzt, belasten. Sie wollen behaupten, daß dieser Arzt die Schuld hat. Damit Ihre vortreffliche Krankenschwester entlastet wird. Herr Dr. Vogel, was in Ihrer Klinik geschah, ist ungeheuerlich. Aber was jetzt versucht wird … dafür fehlen mir einfach die Worte. Die Schuldige soll geschont werden.«

      »Es ist nicht bewiesen, daß die Krankenschwester schuldig ist.«

      »Wer ist es denn also? Sie vielleicht, Herr Dr. Vogel? Sie tragen die volle Verantwortung.«

      »Das habe ich nie geleugnet. Daher habe ich sofort eine Untersuchung durchgeführt. Ich bin selbst erschüttert, daß sich die Aussagen meines Kollegen und der Krankenschwester so kraß widersprechen.«

      »Und mit dieser Ihrer Erschütterung soll ich mich begnügen, Herr Dr. Vogel?«

      »Nein, Herr Präsident, mein Bericht für die Staatsanwaltschaft ist fertiggestellt.«

      »Davon wird mein Kind nicht wieder lebendig. Aber meine arme Frau und ich werden also wenigstens die Genugtuung haben, daß der Mörder unseres Kindes bestraft wird.«

      Hagemann wandte sich zur Tür.

      Dr. Vogel ging ihm einen Schritt nach. »Herr Präsident«, sagte er zögernd. »Bitte … Sie dürfen sich nicht in Rachegefühle verstricken. Ich weiß, wie entsetzlich der Verlust ist, den Sie erlitten haben. Aber Sie müssen versuchen, sich mit dem Geschehenen abzufinden. In Ihrem eigenen Interesse.«

      Hagemann drehte sich halb herum. Sein Gesicht war zu einer Grimasse verzerrt. »Mein Interesse? Daran hätten Sie früher denken sollen. Daran hätten Sie denken sollen, als mein Kind auf dem Operationstisch lag.«

      »Herr Präsident …« Vogel sprach sehr laut.

      »Ja, daran hätten Sie denken sollen. Aber Sie denken nur an den Ruf Ihrer Klinik und an Ihren eigenen. Und natürlich an den Ihrer Krankenschwester. Sparen Sie sich Ihre Entschuldigungen auf, bis Sie vor Gericht Rede und Antwort stehen müssen. Ich werde gegen die Schwester Strafanzeige erstatten.«

      Die Tür knallte zu.

      Schwester Marina warf einen kurzen, prüfenden Blick in den Garderobenspiegel. Es hatte an der Wohnungstür ihres kleinen Apartments geklingelt.

      Und sie wußte, wer da kam.

      Ihre grauen Augen, deren Wimpern sie sorgsam schwarz getuscht hatte, wirkten unnatürlich groß in dem schmalen, weißen Gesicht. Sie massierte sich hastig die Wangen mit den Fingerspitzen.

      Es klingelte noch einmal. Marina öffnete schnell die Tür. »Herbert«, sagte sie. »Ich bin so froh, daß du da bist.«

      »’n Abend, Marina.« Der Besucher trat ein und küßte sie flüchtig. Marina schloß die Tür hinter ihm. Sie sah, wie er sich vor dem Spiegel über sein blondes Haar strich. Als sich ihre Blicke im Spiegel begegneten, lächelte er. Aber es war ein gefrorenes Lächeln.

      Und Marina hatte plötzlich ein unbehagliches Gefühl.

      Er ging schnell in das Zimmer, während Marina in die Küche lief, aus dem Eisschrank Bier holte, die Flasche öffnete und sie dann auf einem Tablett hereinbrachte.

      Ihr Verlobter stand im Zimmer, die Hände in den Hosentaschen. »Setz dich doch, Herbert«, sagte Marina. »Ich habe uns ein bißchen zu essen gemacht.« Er sah auf die Schüssel mit den appetitlichen Brotschnitten und schüttelte den Kopf. »Danke, ich hab’ keinen Hunger.«

      Eine gute Stunde hatte Marina gebraucht zum Herrichten des Essens. Sie blickte traurig auf den hübsch gedeckten Tisch. Aber sie ließ sich ihre Enttäuschung nicht anmerken. »Na, vielleicht später«, sagte sie nur. »Aber ein Bier wirst du doch trinken?«

      »Na, denn gib mal her«, sagte er gnädig.

      Sie schenkte ihm ein, so wie er es liebte, mit einer hohen weißen Schaumkrone. »Schade, daß du vorigen Donnerstag nicht kommen konntest. Ich hatte Kartoffelklöße und Schweinebraten. Das ißt du doch so gern.«

      Der Mann nahm einen kräftigen Schluck Bier und wischte sich den Mund mit dem Handrücken ab.

      »Der Dienst geht vor«, sagte er kurz.

      »Ja, natürlich, ich weiß.« Marina suchte nach einem unverfänglichen Thema. Sie spürte, daß irgend etwas nicht stimmte. Aber sie ahnte nicht, was es war.

      Sie warf ihm einen kurzen, prüfenden Blick zu, doch sein Gesicht blieb verschlossen. »Wir hatten auch viel Arbeit in der letzten Zeit«, sagte sie unsicher. »Sogar ein paar Fälle mit Kinderlähmung. Aber zum Glück ist hier alles gutgegangen.«

      »Soso, wieder alles in Ordnung?«

      »So schnell geht das nicht. Die Kinder mit Polio sind ja erst eingeliefert worden. Doch wir haben Hoffnung …«

      »Die Kinder interessieren mich nicht. Ich will wissen, ob in der Klinik wieder alles okay ist.«

      »Wie meinst du das?«

      »Stell dich nicht so an, du weißt schon, was ich meine.«

      Sie biß sich auf die Lippen. »Wie sprichst du denn mit mir? Was hast du denn?«

      Er sah sie nicht an.

      Nach einer Pause fuhr sie fort: »Die Beziehungen zwischen dem Chefarzt