Kinderstation. Marie Louise Fischer. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Marie Louise Fischer
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Документальная литература
Год издания: 0
isbn: 9788711718988
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Calcium. Alle drei verloren sie das Gefühl für Zeit. Nur die steigende Menge des abgesaugten Blutes zeigte ihnen, daß sie sich ihrem Ziel näherten.

      Schwester Marina hielt ihren Finger an das zarte Hämmerchen des Kinderpulses. 300 ccm Blut waren bereits ausgetauscht.

      Da spürte sie plötzlich, wie der Puls zu flattern begann, zu ersterben drohte. Die Atmung war kaum noch zu spüren.

      »Der Puls«, sagte sie, »die Atmung setzt aus.« Sie sprach mit ruhiger, kaum erhobener Stimme.

      Dennoch wirkte es auf die Männer wie ein Alarmruf.

      Mit einer raschen Bewegung entfernte Dr. Vogel das Abdecktuch vom Gesicht des Kleinen. Er sah, daß es sich bläulich zu verfärben begann.

      »Lobelin«, sagte er, »schnell! Einen Kubikzentimeter und Sauerstoff!«

      Mit zusammengepreßten Lippen sah er, wie die zyanotische Verfärbung des Kindes zunahm und der Atem aussetzte.

      »Die Spritze!« Schwester Marina hielt sie in der Hand.

      Dr. Vogel spritzte selber. Als das atemanregende Medikament in den Körper des Kindes rann, wartete er gespannt auf die Wirkung. Sie trat ein, sehr rasch. Aber ganz anders, als er erwartet hatte. Das Neugeborene wurde unruhig, der Körper zuckte, verkrampfte sich, wurde steif. Die Blaufärbung vertiefte sich.

      Das kleine Herz blieb stehen.

      Sie sahen sich an, voll Entsetzen, fassungslos.

      Marinas Gesicht war kalkweiß geworden.

      »Wir könnten es noch mit einer intracardialen Injektion versuchen.«

      Dr. Vogels Stimme klang müde und ohne Überzeugungskraft.

      Während er die Spritze in das Herz des Kindes stieß, wußte er, daß es nichts mehr nutzen würde. Das Kind war gestorben, ohne je seine Mutter, ohne je das Licht des Tages gesehen zu haben. Es war tot, unter seinen Händen dahingegangen. Er hatte eine Schlacht verloren.

      »Unser Direktor, Professor Ramsauer, kommt ja erst Ende der Woche zurück«, hörte er Dr. Eichner wie aus weiter Ferne sagen. »Sie werden es selber Dr. Hagemann erklären müssen.«

      »Das ist nun wirklich das wenigste.«

      »Was sagen Sie? Ich für meinen Teil möchte nicht in Ihrer Haut stecken.«

      Dr. Vogel antwortete nicht. Er stand bewegungslos da. Was ist hier geschehen … hat jemand von uns versagt? dachte er.

      »Gute Nacht«, sagte Dr. Eichner. »Ich nehme an, daß ich nicht mehr gebraucht werde?«

      »Gute Nacht, Herr Doktor«, sagte Schwester Marina gepreßt.

      Die Schwester räumte die Instrumente fort. Sie stand mit dem Rücken zum Chefarzt. Ihre Schultern zuckten.

      Dr. Vogel war sich kaum ihrer Anwesenheit bewußt. Er trat an das Tischchen, auf dem die Präparate gelegen hatten, sah die leere Ampulle. Sie war nicht gekennzeichnet, anscheinend einer Klinikpackung entnommen. Er hielt sie gegen das Licht, sie enthielt noch einen Rest durchsichtiger Flüssigkeit. Er drückte den Daumen auf die Öffnung der Ampulle.

      Dann verließ er grußlos den Raum.

      2

      Professor Böhninger saß weit zurückgelehnt in seinem lederbezogenen Sessel hinter dem mächtigen Schreibtisch und sah seinen Schwiegersohn freundlich-spöttisch an. Es war am Morgen nach der Party.

      »Na, wo brennt’s denn?« fragte er lächelnd.

      Dr. Vogel beugte sich vor, die Hände um die Knäufe der Sessellehne geballt, und sagte mühsam: »Wir hatten gestern nacht eine Blutaustauschtransfusion an einem Neugeborenen —«

      »Ja?« fragte der Professor.

      »Exitus.«

      Einen Augenblick lang herrschte Schweigen.

      Dann sagte der Professor: »Das tut mir leid, Arno.« Er öffnete ein silbernes Döschen, steckte sich eine Pfefferminzpastille in den Mund. »War es das Kind von Evelyn Hagemann?«

      »Du weißt … ?«

      »Ich bin in großen Zügen unterrichtet. Gestern abend sprach ich mit dem Kollegen Bayer, der die Entbindung durchgeführt hat. Eine schwere Operation mit weitgehenden Konsequenzen. Aber anscheinend hatte Bayer keine Wahl. Immerhin … die Frau lebt.«

      »Sie wird keine Kinder mehr haben können?«

      »Ist es das, was dir zu schaffen macht? Oder daß es ausgerechnet mit dem Kind von Hagemann passiert ist? Der Tod nimmt keine Rücksicht auf Geburt und Stellung eines Menschen.«

      »Dieses Kind«, sagte Dr. Vogel gedehnt, »hätte nicht sterben müssen.«

      Professor Böhninger hob die dünnen weißen Augenbrauen. »Ich fürchte, ich verstehe dich nicht.«

      »Bitte, glaube nicht, daß ich mir etwas einrede. Einen unbestimmten Verdacht würde ich niemals aussprechen … nicht einmal dir gegenüber. Ich weiß, was ich sage, ich habe den Beweis.« Er holte seine Brieftasche aus dem Rock, nahm ein kleines Schriftstück heraus, reichte es dem Professor über den Schreibtisch.

      »Du hast eine Analyse im Labor machen lassen?« sagte der Professor unbehaglich berührt.

      »In der Ampulle war noch ein kleiner Rest, ich fürchtete schon, daß er nicht ausreichen würde. Aber, bitte, lies selber.«

      Der Professor überflog das Schriftstück mit zusammengezogenen Augenbrauen, sagte: »Gradiren ja, aber … das kann man doch nicht einem Neugeborenen geben.«

      »Ich hatte natürlich Lobelin verlangt.«

      Professor Böhninger strich sich nachdenklich mit dem Zeigefinger über den Nasenflügel. »Wer hat dir die Spritze gegeben?«

      Dr. Vogel holte tief Atem. »Ich kann mich nicht daran erinnern, Vielleicht habe ich es auch gar nicht gesehen! Ich hatte nur Augen für das Kind. Die Atmung hatte ausgesetzt, es wurde deutlich zyanotisch. Ich verlangte Lobelin, jemand gab mir die Spritze in die Hand. Natürlich erwartete ich, daß die Atmung wieder einsetzen würde … statt dessen Krampf, Versteifung, Exitus.«

      Er beugte sich vor. »Sag mir jetzt nur nicht, daß es vielleicht auch sonst gestorben wäre. Es war ein tadelloses Kind. Ich habe es gründlich untersucht. Herz, Lunge, alles in Ordnung. Der Blutaustausch hätte gelingen müssen. Statt dessen …« Seine Stimme brach ab.

      Der Professor erhob sich. »Was willst du tun?«

      »Ich weiß es noch nicht.«

      »Arno!« Professor Böhninger ging um den Schreibtisch herum und auf Dr. Vogel zu. »Du willst Anzeige erstatten …«

      »Anzeige … nein, das nicht. Das einzige, was ich will, ist eine interne Untersuchung.«

      »Bildest du dir wirklich ein, daß so etwas intern bleiben kann?«

      »Warum nicht? Jeder, der in den Fall verwickelt ist, kann nur das größte Interesse daran haben, nach außen zu schweigen.«

      »Das glaubst du? Darf ich fragen … wer war überhaupt mit dir im OP?«

      »Schwester Marina und Eichner.«

      »Zuverlässige Leute.«

      »Ja, ich weiß. Trotzdem muß sich einer von beiden geirrt haben. Oder glaubst du etwa, ich hätte … ?«

      »Ich nehme nichts dergleichen an. Aber wenn du schon davon sprichst … siehst du denn nicht, daß du im Begriff stehst, dich ganz unnötig zu exponieren?«

      »Ich muß wissen, wie es zu diesem verhängnisvollen Mißgriff gekommen ist. Ganz egal, wer schuld hat«, sagte Dr. Vogel hartnäckig. »Irgendwo muß eine Fehlerquelle liegen. Ich muß sie finden. Glaubst du denn, ich kann riskieren, daß etwas Ähnliches noch einmal geschieht?«

      »Stell den Totenschein aus und laß