Das Dorf der Wunder. Roy Jacobsen. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Roy Jacobsen
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9788711449646
Скачать книгу
kennenlernt.

      Als es ganz dunkel geworden war, ging ich hinaus, um zu lauschen – und hörte nichts. Rein gar nichts. Ich dachte, das sei seltsam, aber es wäre noch seltsamer gewesen, wenn ich etwas gehört hätte, von diesem Krieg, der uns auf allen Seiten umgab und doch nicht da war, wie der morgige Tag, der nicht kommt, ehe er das eben tut.

      Ich ging wieder ins Haus, schloss die Tür ab, stieg die Treppe hoch und legte mich in die Kammer, von der ich wusste, dass sie dem jüngsten Sohn von Luukas und Roosa gehört hatte, Markku, der jetzt Soldat auf der Karelischen Landspitze war, wo wirklich Krieg herrschte und nicht nur eine Versteinerung alles Lebenden, und wo die Soldaten, russische und finnische, bereits starben wie die Fliegen – mit den Händen konnte ich spüren, dass meine Gesichtshaut nicht mehr kochte, sie war nur rau und sandig und wie taub, wie es sich gehört, wenn man etwas Entsetzliches erlebt hat, wenn man es aber geschafft hat, sich daran zu gewöhnen.

      3

      Niemals sind die Gedanken so luftig wie dann, wenn ich langsam in einem Bett erwache, aus dem ich nicht aufstehen muss, dann denke ich an ein Meer aus Bäumen, an Baumstämme, die nur ein Mensch – oder ein wilder Sturm – umwerfen kann, die alle in dieselbe Richtung zeigen, als ob ihnen das befohlen worden wäre, wie Soldaten, oder Zaunpfosten, und an den Wind, der die Stimme des Waldes ist, zusammen mit dem Knacken von Frost und dem Gesang der Vögel, dem Surren der Insekten und dem Regen, während der Schnee nicht viel sagt, aber was ich höre, als ich wieder vor der riesigen Tür stehe und meinen Namen nicht finden kann, ist das Geräusch von Ketten – von gierigen Panzerketten und Motorengebrüll, von eiligen Stiefeln und Rufen, während Haus und Bett zittern und hochhüpfen wie eine Kaffeetasse in einem leeren, durchgedrehten Heuwagen.

      Trotzdem lasse ich mir Zeit, nicht, dass ich nun darüber nachdächte, ich erinnere mich nur daran, dass ich mir Zeit lasse, ehe ich aufstehe und aus dem Schlaf hinaussteige und mich anziehe wie für einen weiteren Tag, und langsam die Treppe zur Küche hinuntergehe, wo ein fremder Mann herumfährt, als er mich hört, und ein Gewehr auf meine Brust richtet, während Panik aus seinem verdreckten und verhärmten Gesicht leuchtet – und gleich darauf fängt er an zu schreien.

      Ich begreife, dass er Befehle schreit. Und diese Befehle richten sich an mich, aber sie erfolgen in einer Sprache, von der ich nur einige wenige Wörter weiß, deshalb hebe ich die Arme und versuche, beruhigend zu lächeln, während ich langsam rückwärts hinaus auf die Straße gehe und fast über den Haufen von Eisenschrott gestolpert wäre, der jetzt von Reif und Schnee bedeckt wird, und ich sehe, dass die zerstörte Stadt abermals voller Menschen ist, Mengen von Männern, laufenden, gehenden, fahrenden, reitenden, fremden schwarzen Gestalten und ihren Maschinen, die die Stille gesprengt haben und alles mit Gerüchen und Geräuschen füllen, die es niemals hier gegeben hat, Tausende von fremden Gestalten, die allesamt etwas Zögerndes und Seltsames an sich haben, als seien sie aus dem Boden gestampft worden und könnten sich im Tageslicht nicht zurechtfinden.

      Sie strömen von allen Seiten auf mich zu und starren und starren mit Augen, die nicht sehen. Und da offenbar niemand eine Entscheidung treffen will, sondern alle nur mit ihren Gewehren herumfuchteln und wild durcheinanderrufen, als seien sie unschlüssig und wütend zugleich, gehe ich ruhig weiter vor dem ungeduldigen Gewehrlauf einher, noch immer mit den Armen über dem Kopf, ich mache eine Art Spießrutenlauf zwischen weißen Blicken, blauen Lippen und unbegreiflichen Zurufen hinter mir, auf eine Gruppe von Panzerwagen zu, die auf dem Platz vor der niedergebrannten Schule in Stellung gefahren worden sind, und dort erwartet mich ein Mann, in dem ich den Offizier erkenne.

      Er hat beide Handflächen gehoben, wie zu einem Indianergruß, aber ich verstehe, dass er mich anhalten will, deshalb halte ich an, in gebührender Entfernung, und ich höre ihn über seine Schulter etwas einem hellhaarigen Mann zurufen, der in diesem Moment aus dem riesigen Zelt herauskommt, der Einzige hier, der keinen Helm auf dem Kopf trägt, sondern eine Pelzmütze mit hochgeschlagenen Ohrenklappen, er sieht aus wie ein Finne und spricht mich in meiner eigenen Sprache an, wenn auch gebrochen, und zuerst nur mit einem kurzen Gruß, aber den erwidere ich.

      Es ist still, ehe er anfängt, für mich zu übersetzen, was der Offizier sagt, oder kläfft, denn der Dolmetscher spricht freundlicher oder gedämpfter als sein Vorgesetzter, und ich habe das vage Gefühl, ihn schon einmal gesehen zu haben, den Dolmetscher, das mag an der Sprache liegen, die besser und besser wird, je weiter das Verhör voranschreitet, ohne dass wir irgendwohin gelangten, denn ich kann ja nur immer wiederholen, dass ich der Einzige bin, der sich noch in der Stadt aufhält, und dass ich mich geweigert habe, sie zu verlassen, weil ich hier wohne und niemals an einen anderen Ort gehen werde, komme, was da wolle. Und ich spüre, als ich das alles sage – und es ist nur die pure Wiederholung dessen, was ich zu Antti und Olli gesagt habe –, dass meine Worte sich jetzt richtiger und wirklicher anhören, fast durchdacht, was sie natürlich nicht sind, es ist der pure Wahnsinn, was ich hier von mir gebe, und das begreifen alle, aber es kann eben nicht anders sein, weil es wahr ist.

      Aber der Offizier wird immer nur noch wütender angesichts meiner vielen Antworten, die sich nicht ändern, und der Dolmetscher fragt, warum, warum ... bis ich sage:

      »Ich bin der Holzhacker hier, ich beliefere die Häuser mit Holz und sorge dafür, dass die Menschen warm bleiben.«

      Dann wird es endlich still. Der verwirrte Offizier zeigt in seinem mageren Gesicht etwas, das wie ein Hauch von Begreifen aussieht – oder Versöhnlichkeit? –, dann stößt er plötzlich ein schallendes Lachen aus, in das der eine Soldat nach dem anderen zögernd einstimmt, bis im nächsten Augenblick an die hundert fremde Männer auf dem nachtschwarzen Eis stehen und lachen, als hätten sie niemals etwas so Komisches gehört.

      Aber Lachen ist nun einmal besser als scharfgeladene Waffen, und keine davon zeigt nun noch in meine Richtung, deshalb wage ich es, die Arme zu senken, bleibe aber weiterhin dort stehen, wo ich nun einmal stehe, zum Beweis dafür, dass ich eingesehen habe, dass nicht ich, sondern der Offizier zu bestimmen hat, ob ich diesen Platz verlassen darf oder nicht, und das wirkt abermals beruhigend auf ihn ein.

      Er tritt näher und mustert mich, als ob ich mich vielleicht als der ausgegeben hätte, der ich bin, während ich seinen Blick ängstlich erwidere. Er ist ein Mann von mindestens vierzig, breitschultrig und von hoch erhobener Haltung, mit einer starken Nasenwurzel und schmalen bitteren Lippen, in die er immer wieder die Zähne gräbt, und seine Augen sind ebenso schlaflos und erschöpft wie die von Olli, sein Gesicht ist verhärmt und mager und voll von wochenalten Bartstoppeln, die in ungleichmäßigen Büscheln aus der überraschend weißen Haut wachsen.

      »Frierst du?«, frage ich, in einer Art Glauben, dass ich endlich entdeckt habe, was mit ihnen nicht stimmt, diesen humpelnden und schlurfenden Bewegungen, sie sind erschöpft, einer wie alle, am Rande des Zusammenbruchs.

      »Ist das eine Frage?«, fragt der Dolmetscher tonlos und schaut in eine andere Richtung.

      »Ja«, sage ich. »Er sieht aus, als ob er friert, und als ob er das schon lange tut.«

      Jetzt kann die Frage als etwas verstanden werden, das mit meinem Holz zu tun hat, das ich eben erwähnt habe, mit Wärme und Frost und nicht mit dem Krieg. Und soweit ich das beurteilen kann, beschließt der Dolmetscher, irgendwie in diese Richtung zu übersetzen. Aber dann passiert etwas zwischen den beiden Männern, das ich nicht durchschaue, denn der Offizier scheint sich plötzlich über den Dolmetscher mehr zu ärgern als über mich, und der Dolmetscher scheint sich zu verteidigen.

      »Hast du übersetzt, was ich gesagt habe?«, schalte ich mich ein.

      »Fresse halten«, kläfft er über seine Schulter und beantwortet weitere Vorwürfe, ehe er sich wieder zu mir umdreht.

      »Er glaubt nicht, dass du gefragt hast, ob er friert.«

      »Sag es noch einmal, und sag auch, dass ich ihm etwas zeigen will.«

      Der Dolmetscher überlegt, sagt ohne Betonung ein paar russische Wörter, bleibt stehen und starrt seine Stiefelspitzen an. Der Offizier lässt seinen Blick zwischen ihm und mir hin und her wandern und murmelt aus dem Mundwinkel etwas. Der Dolmetscher nickt nüchtern und drehte sich ein weiteres Mal in meine Richtung um.

      »Bist