Das Dorf der Wunder. Roy Jacobsen. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Roy Jacobsen
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9788711449646
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Vulkanausbrüchen ähnelten, und woher kam dieser entsetzliche Wind, plötzlich tobte ein ausgewachsener Sturm durch das windstille Inferno.

      »Krieg ohne Feuer ist wie Würstchen ohne Senf«, schrie der Offizier mir ins Ohr. »Komm.«

      Er lief jetzt auf die Brücke zu. Und mir blieb nichts anderes übrig, als hinterherzulaufen, ich holte ihn auch ein und lief ein Stück weit neben ihm her. Es war kein Problem, mit ihm Schritt zu halten, obwohl es schwer zu sagen ist, ob er den Versuch machte, mir davonzulaufen, er lief eigentlich ziemlich lässig dahin, trotzdem schien es ihn zu ärgern, dass ich so gut mit ihm Schritt halten konnte, bis hinunter zur Brücke, wo die Wagen sich jetzt in Erwartung neuer Befehle versammelten – Suomussalmi liegt auf einer Landzunge in dem zehn Kilometer langen Binnensee Kiantajärvi, der sich darumwickelt wie eine Schlange mit Stacheln, und jetzt sah ich, dass auch die Häuser auf der gegenüberliegenden Landzunge in Flammen standen, aber dort waren viel weniger, deshalb nahm ich an, dass das Regiment mit heiler Haut dort vorbeigelangen könnte, falls sie nicht vorhatten, sich über das Eis auf die Südseite des Sees zu begeben, was ich getan hätte, wenn ich der Chef dieser Truppen gewesen wäre und vorgehabt hätte, eine Stadt zurückzuerobern, die ich im ersten Durchgang aus taktischen Ursachen niedergebrannt hatte.

      Aber das sagte ich nicht, und jetzt starrte der Offizier mich wieder mit seinem erschöpften Winterblick an, ehe er endlich verärgert genug zu sein schien, um eine Entscheidung zu fällen.

      »Ich kann dich das Gewehr nicht behalten lassen«, sagte er. »Das macht alles nur noch schlimmer ... für dich.«

      Ich nickte.

      »Aber pass gut darauf auf«, sagte ich.

      Er murmelte ein saures Ja, plötzlich abwesend, worauf auch sein kleines Lächeln wieder zum Vorschein kam. Und erst nachdem er seinen Soldaten etliche geheulte Befehle erteilt hatte, und nachdem die Wagen angefangen hatten, über die Brücke zu rollen, begriff ich, dass er ein letztes Mal über die Möglichkeiten nachdachte, mich mit rauer Gewalt zum Mitgehen zu zwingen, eventuell auch, ob er sich überhaupt die Mühe machen sollte, sich um mich zu kümmern.

      »Du hast lange nicht mehr geschlafen«, sagte ich.

      Er schaute überrascht auf.

      »Seit voriger Woche nicht mehr, wieso?«

      Ich trat einige Schritte zur Seite.

      »Du kriegst mich auf keinen Fall mit«, rief ich. »Dann laufe ich einfach in die Flammen und die Sache hat sich.«

      Er schien endlich zu begreifen, dass ich ernst meinte, was ich hier sagte. Jetzt kam zudem sein eigener Wagen angefahren, er öffnete die Tür, sagte etwas zum Fahrer und drehte sich mit einem weißen Anorak in den Händen zu mir um, murmelte etwas darüber, dass der mich vor der Kälte schützen würde, jedenfalls dagegen, entdeckt zu werden, sollte ich doch noch auf die Idee kommen, einen Fluchtversuch zu unternehmen. Aber ich machte keine Miene, das anzunehmen.

      »Sind die Russen weiß oder schwarz?«, fragte ich.

      Der fing an zu lachen, warf den Anorak wieder ins Auto und rief:

      »Schwarz! Schwarz wie der Teufel!«

      Nuschelte dann ein »viel Glück«, so leise, dass ich es nicht hören konnte, vielleicht war es auch eine Serie von Verwünschungen, mir wäre es lieber gewesen, wenn er viel Glück gesagt hätte, dann stieg er ins Auto und fuhr hinter den anderen her, über die Brücke nach Hulkoniemi, nach Westen, fort von den vorrückenden Russen.

      Diesem Offizier sollte ich später wieder begegnen, er hieß Olli und hatte zu diesem Zeitpunkt den Rang eines Leutnants, den Rang, den auch mein Vater innegehabt hatte. Bei Kriegsende sollte er weiterhin den Rang eines Leutnants bekleiden, anders als mein Vater, der es geschafft hatte, in dem Krieg, an dem er teilgenommen hatte, zum Hauptmann aufzurücken.

      2

      Ich lief zurück zur Stadt und sah, dass Anttis Haus nicht in Flammen stand, dass es im Haus jedenfalls nicht so brannte, wie sich das gehörte, es schwelte nur in der Küche und der Rauch legte sich wie dicke Sauermilch vor die Fenster von Wohnstube und Schlafzimmern. Aber wegen der Flammen in den Nachbarhäusern war es unmöglich, sich dem Haus von vorn zu nähern, deshalb lief ich herum und wollte schon die Hintertür eintreten, den Eingang, den ich selbst benutzte, wenn Antti mich nicht sehen wollte, als mir im letzten Moment einfiel, dass vermutlich nur das noch fehlte, ein plötzlicher Windstoß, deshalb fing ich an, Luken und Kellerfenster mit Schnee zu verstopfen, um das Haus noch mehr abzudichten.

      Dann übertönte plötzlich eine weitere Explosion den bereits bestehenden Höllenlärm – die Brücke war in die Luft geflogen –, und in dem unwirklichen Lichtschein in Richtung Hulkoniemi konnte ich sehen, dass das Eis im Sund brach und dass der See jetzt aussah wie ein Fluss bei der Frühjahrsschmelze. Hinter allem, an der schrägen Schattenwand des Waldes, bildeten viele kleine wässerige Bewegungen zusammen einen grauen Fluss, der langsam über das Eis zum Fähranleger auf Haukiperä zulief, den Weg, über den ich selbst meine Soldaten geführt hätte, wenn ich Olli oder sein Vorgesetzter gewesen wäre. Aber ich weiß nicht, ob das wirklich besonders beruhigend auf mich wirkte, man denkt in einem solchen Augenblick nicht klar, eigentlich hatte ich überhaupt nicht gedacht, sondern das getan, was ich tun musste, ich hatte Schnee in Luken und Spalten gestopft und gesehen, wie die letzte Verbindung nach Westen in die Luft geflogen war.

      Jetzt sah der Rauch in Anttis Haus hinter den verdreckten Fensterscheiben aus wie eine kompakte Mauer, aber er war immer noch grau, zum Glück, nicht gelb, nicht rot, und ich wusste, dass sie überleben würden, die Wohnung und auch der Laden.

      Ich ging um den Laden herum und ins Lager, holte mein Werkzeug und den Sack mit den Lebensmitteln und brachte mich im weiter oben gelegenen Wald in Sicherheit – und dort stand ich dann für Stunden und sah alles, was die Menschen in Suomussalmi geschaffen und zusammengekratzt hatten, in schwarzen Rauch aufgehen, angezündet von denselben Menschen oder deren Anführern, und das Seltsame war, dass mich der Anblick der brennenden Schule am meisten betroffen machte, ich hatte so oft davon geträumt, diese Schule anzustecken, damals, als ich selbst sie besucht und keine Freude daran gehabt hatte, hier flog meine Kindheit in die Luft, Erinnerungen und Freunde, gute und schlechte, und die kleine Kirche, die offenbar besser brannte als alles andere, woran das nun liegen mochte, und die, wie ich erst jetzt entdeckte, vielleicht das schönste Bauwerk im ganzen Ort war, dort war ich getauft und konfirmiert worden, und ich hatte auch geglaubt, irgendwann dort begraben zu werden, wie meine Eltern – zuerst sah das Flammenmeer aus wie ein riesiger zerfetzter Stern, der seine wilden Arme durch die ganze Stadt ausstreckte, dann wie eine zischende Schlange, dann wie ein Sack mit vielen Unwetterwolken, die in diesem wahnwitzigen windlosen Sturm hin und her wogten, aufwärts zu einer Klimax, die plötzlich da war und wieder verschwand, in einer rauchenden Lawine, so fällt ein Berg in sich zusammen, dachte ich, das war eine Lawine.

      Ich musste bis tief in die Nacht hinein im Wald bleiben. Der Schnee schmolz von den Bäumen, Wassertropfen fielen durch den schneidenden Frost und wurden zu Hagel und weißen Steinchen, ehe sie auf den rußschwarzen Erdboden auftrafen, mit einem Geräusch wie dann, wenn ein Pferd gebrandmarkt wird, alle Grundmauern schwelten, nackter Boden war überall zum Vorschein gekommen, bedeckt von Ruß und Lehm, wie mit offenen Wunden, kaltem Brand, ehe der Frost abermals alles versteinerte und hauslose Straßen und Gassen in grauen, öden Beton verwandelte. Aber als es wieder Morgen geworden war, soweit es nach einer solchen Nacht Morgen werden kann, war seltsamerweise die Stimmung nicht so unwirklich wie vorher in der Stille, als die Häuser noch dort standen und zitterten wie wehrlose Kinder. Eine verbrannte Stadt hat so auszusehen wie ein fauliger Krater in weißer Haut, das erwartet man von einer verbrannten Stadt, es ist entsetzlich und es ist unvorstellbar, aber dann ist es doch genau so, wie es sein soll.

      Aber ich entdeckte also, dass an die zwanzig Gebäude noch standen, wenn ich große und kleine mitzählte, versengte und halb versengte, und dazu gehörten nicht nur Anttis Laden, sondern auch die Hütte von Luukas und Tante Roosa, die ich sicherheitshalber nicht abgeschlossen hatte. Dort waren nur Windfang und ein Stück Vordergiebel weggebrannt, so dass ich durch die grün angestrichene Küchentür schauen und feststellen konnte, dass noch immer die Fotografien