Der Chauffeur öffnete den Schlag. Er wollte Beate hineinhelfen. Joachim kam ihm zuvor.
„Danke, Herr von Retzow! Hätten Sie nicht auch Lust gehabt, die Meistersinger‘ zu hören?“
„O ja, gnädige Frau! Aber ich weiss nicht, ob Mister Meredith nicht noch Aufträge für mich hat.“
Schon im Anfahren, beugte Beate ihren blonden, schmalen Kopf heraus.
„Also, wenn Sie Zeit haben, ich habe die zweite Karte noch frei. Lady Sumerset hat abgesagt. Ich würde mich freuen, Sie in der Loge zu sehen. Ich weiss doch, Sie sind ein Wagner-Schwärmer wie ich. Auf jeden Fall bitte ich Sie, mich abzuholen.“
Sie nickte noch einmal. Joachim stand da und schaute ihr nach. Sein Herz war voll Schmerz und Sehnsucht.
Das Auto Beates fuhr schnell und lautlos durch die Strassen Londons. Sie sass in die Ecke gedrückt, die Augen geschlossen. Warum hatte sie eigentlich Retzow freigestellt, die Karte von Lady Sumerset zu benutzen? Es war Wohl die Angst in ihr, dass es Meredith einfallen könnte, in die Loge zu kommen, und dass sie mit ihm allein würde heimfahren müssen. Nur das nicht!, dachte sie. Nach dieser Szene, vor dem Essen, nun mit ihm allein zusammen ... Sie konnte nicht ... Sie konnte nicht mehr!
Joachim von Retzow war wie ein Schutzwall vor Meredith. Sie seufzte zitternd auf. Aber war er ihr auch ein Schutzwall für sie selbst? Man durfte nicht nachdenken, nicht fühlen, wie beruhigend und erwärmend Joachim von Retzows Nähe war in der harten Grausamkeit ihrer Ehe. Aber an diesem Abend hatte sie nicht anders gekonnt. Mit Meredith allein — es hätte ein Unglück gegeben. Es gab Augenblicke, wo die Verzweiflung über den Rand der Seele hinwegbrach und alles fortschwemmte: Ueberlegung, Selbstzucht und Vernunft.
Als Joachim ins May-Fair zurückkehrte, fand er Meredith im Rauchzimmer mit Tschaltikjanz und ein paar anderen Geschäftsfreunden. Sie brachen im Gespräch ab, als Joachim herankam.
„Haben Sie noch Befehle, Mister Meredith?“
„Nein, danke! Ich brauche Sie heute abend nicht mehr. Gehen Sie mal los, Retzow! Amüsieren Sie sich! Sehen Sie sich mal London bei Nacht an!“
Meredith lachte. Er schien bei guter Laune zu sein. Sein massiges Gesicht war rot. Er schien reichlich getrunken zu haben.
„Wo ist denn Mistress Meredith?“ fragte plötzlich Ambarzum Tschaltikjanz. Er warf einen schnellen, gleitenden Blick auf Retzow.
„In der Oper. Deutsches Gastspiel. Da kann sie natürlich nicht fehlen!“ meinte Meredith wegwerfend. „Ich glaube, sie ist mit Lady Sumerset dort.“
„So?“ Ambarzum Tschaltikjanz schien von dieser Auskunft irgendwie befriedigt zu sein. Es lag Joachim auf den Lippen, dass Lady Sumerset abgesagt und Mistress Meredith ihn aufgefordert hätte. Aber er schwieg. Er hatte plötzlich ein unangenehmes Gefühl, vor Ambarzum Tschaltikjanz zu erwähnen, dass er in die Oper gehen wollte. Schliesslich war er ja dem Armenier gegenüber sein eigener Herr.
„Vielen Dank, Mister Meredith. Ich bin also morgen früh um zehn Uhr mit der Post bei Ihnen.“
Meredith hielt ihn noch einmal zurück:
„Ich habe ja ganz vergessen, Ihnen zu sagen: wir reisen morgen abend — Mistress Meredith und ich!“
„Wohin, Mister Meredith?“
„Nach Borschom — Kaukasus! Mister Tschaltikjanz war so freundlich, beim Portier bereits die Karten zu bestellen. Sorgen Sie dafür, dass morgen die Rechnungen zur rechten Zeit vorliegen. Wir arbeiten von zehn Uhr bis zum Abgang des Zuges. Er geht um sechs Uhr von Centralstation.“
„Hübscher Bursche!“ Ambarzum Tschaltikjanz sah Retzow nach.
„Und zuverlässig!“ fügte Meredith hinzu.
„Inwiefern zuverlässig?“
Meredith sah Ambarzum Tschaltikjanz erstaunt an.
„Natürlich im Geschäftlichen.“
Der Armenier lächelte dünn.
„Wenn er das nicht wäre, glauben Sie, er würde einen Tag bei mir bleiben? Ich kenne meine Leute.“
Selbstgefälligkeit sprach aus Merediths Worten.
„Warum denn eigentlich ein Deutscher, Meredith? Sie konnten doch Privatsekretäre in Hülle und Fülle bekommen.“
„Wegen der russischen Geschäfte. Retzow stammt aus dem Baltikum, spricht russisch wie seine Muttersprache. Ausserdem ist er ehrlich wie — nun eben wie ein Deutscher. Man kann sich blindlings in allem auf ihn verlassen. Vor allem ist er so wenig auf seinen Vorteil bedacht, dass es beinah an Dummheit grenzt. Das finden Sie bei keinem anderen Volke.“
Ambarzum Tschaltikjanz machte eine kleine Bewegung mit den Achseln. Er sah Joachim von Retzow nach; der ging, sehr gross, sehr schlank und sehr blond, gerade dem Portal zu.
Viertes Kapitel.
Oper in Conventgarden. Das ganze Haus glänzte von Licht. Wie schimmernde Girlanden zogen sich die elektrischen Lämpchen an den Balustraden entlang an den Balkons herauf. Wie ein buntes Blumengewinde waren die Kleider der Frauen. Es war, als hätten sich aller Reichtum, alle Schönheit der Welt an diesem Galaabend der grossen Londoner Oper zusammengefunden.
Weisser Tüll lag wie ein schimmerndes Schaumgespinst um schlanke Körper, Brokat bauschte sich in satten, prächtigen Farben, Samt in Schwarz, in Rosafarben, in sattem Blau, lag eng wie eine Haut um die schlanken Frauen. Auf weissen Hälsen blitzte kostbarer Schmuck. Das leuchtende Grün der Smaragden wechselte mit dem weissen Brennen der Diamanten, Perlen schimmerten sanft auf. Grosse Ringe blitzten an den Händen, die Theaterzettel und kleine, mit Juwelen besetzte Konfektdöschen hielten. Dazwischen das korrekte Schwarz der Fracks, das weisse Leuchten der Hemdbrüste, Uniformen der englischen Regimenter dazwischen. Zwischen den hellen, angelsächsischen, blonden Frauen tauchten hier und da exotische Gesichter auf: Chinesinnen, Japanerinnen, Fürstinnen aus Siam und Indien. Einige Männer im weissen, orientalischen Gewande und mit phantastischen Turbans. London ist immer eine Art Völkerschau. Auch hier schien Europa, Asien und Afrika gemeinsam dem grossen Genie des grossen deutschen Meisters zu huldigen.
Die Schlusstöne des ersten Aktes schwebten noch durch den Raum. Da betrat Retzow leise die Loge Beates. Sie hörte ihn nicht. Sie war ganz in die Musik versunken.
Lautlos nimmt er hinter ihr Platz. Im Dämmerlicht der wieder verlöschten Lampen sieht er die Umrisse ihrer Gestalt. Der Hermelinmantel liegt hinter ihr auf dem Sessel. Er sieht ihren schmalen Hals hüllenlos aus dem tief ausgeschnittenen seidigen Kleid aufsteigen. Das blonde Haar liegt schlicht um den Kopf und ist im Nacken zu einem schweren Knoten zusammengeschlossen. Wie mattes Gold ist ihr Haar. Es hat die Farbe von reifen Aehren, kurz ehe die Ernte geborgen wird. Und der Duft von Wiesenblumen ist ganz um sie. Sie sitzt schlank aufgerichtet trotz ihrer Versunkenheit in einer beherrschten Haltung. Sie lässt sich niemals gehen, weder äusserlich noch innerlich. Nur den Kopf hat sie leise gesenkt. Es ist Andacht in ihrer Haltung.
Aber Joachim kann sich jetzt nicht zur Konzentration zwingen. Jetzt noch nicht. Das Glück, mit Beate so schweigend allein zu sein, überfällt ihn geradezu. Immer ist sonst jemand dabei — Dienerschaft, Kellner. Irgendwelche Menschen und vor allen Dingen Meredith. Aber er will jetzt nicht an ihn denken — er will jetzt die Seligkeit geniessen, mit der geliebtesten Frau hier allein zu sein.
Nun endet die Musik. Das Prasseln des Beifalls fegt Stille und Andacht hinweg. Und nun wieder Licht, grell die Einsamkeit mit Beate hinwegnehmend. Plötzlich sind sie doch wieder unter all den Menschen, die da den deutschen Künstlern zujubeln.
Beate Meredith erwacht wie aus einem Traum. Sie klatscht nicht. Sie sitzt still und schaut vor sich hin. Der Bann der Musik hat sie wohl noch ganz umfangen.
„Guten Abend, Mistress Meredith.“
Jetzt