Rein, einfach kosmisch rein.
Einem unbeteiligten Beobachter, den es allerdings nicht gab, hätte sich ein bizarres Bild offenbart: Hier das ausgemergelte Computerhirn, schmal, durchsichtig, die Augenhöhlen blauschwarz umrandet und dabei dennoch jünger aussehend als FB es ohnehin war, das wie ein Hundebaby in dem übergroßen, braunen, alten Ledersessel lag, den Mund leicht geöffnet, inzwischen tief und gleichmäßig atmend. In den Sechzigern des vergangenen Jahrhunderts waren Wesen dieser Art wegen ihrer unmenschlichen Unterernährung als ‘Biafra-Kinder’ bezeichnet worden; eine der geplagten Gegenden größter Armut im bewusst vergessenen Kontinent Afrika.
FB gegenüber, in einem noch mächtiger erscheinenden aus Korb geflochtenen Schaukelstuhl, der aus dem frühen neunzehnten Jahrhundert zu stammen schien und irgendwie von Bali nach Europa gekommen war, hing Franco gewissermaßen in nicht vorhandenen Seilen. Sein wuscheliger, feuerroter Schopf biss sich arg mit der blau-gelben Decke mit Tigerfellmuster einer abartigen Farbkombination. Die Arme hingen wie abgebrochene Rotorblätter eines unsanft gestrandeten Hubschraubers über den gewölbten Lehnen und er schnarchte, den Mund ebenfalls leicht geöffnet, ganz lieblich vor sich hin.
Die Erschöpfung hatte beide guten Seelen eingeholt; sie schliefen einen Heilschlaf, der Jahre würde dauern können.
»Hey, Alter, kannste mich nich mal wecken, wenn de schon hier in meinem Fahrstuhl sitzt, Alter?!«, empörte sich FB. »Lässt dein Handy klingeln, als gäbe es frische Semmeln. Wo ich doch seit Tagen nichts mehr gegessen habe. Das Ding macht n Lärm wie seinerzeit Britney Spears, als man ihr die Möpse vergrößert hat, seinerzeit, verstehst, Alter, fuuuck. «
In der Tat klingelte das mobile Telefon unseres Langschläfers unaufhörlich und Franco, der sich nur mühsam aus seiner unbequemen Stellung aufraffen konnte – sein ganzer Körper schmerzte –, um das dämliche Stück zu suchen, war ziemlich verstört, denn er wusste weder, wo er war, bei wem und wer er selbst eigentlich sei.
»Jonathan hier, hi! Sag mal, Franco, wo steckst du nur die ganze Zeit! Ich versuche dich seit über dreißig Stunden anzurufen. Ich mache mir Sorgen! Trägst mir auf, dich jede Stunde anzurufen, und bist wie vom Erdboden verschluckt. Du hast wohl nicht einmal meine Messages abgehört?!«, empörte sich sein guter Geist aus Dresden.
»Halt mal, Moment mal. Was für dreißig Stunden? Ich bin doch gerade hier in Frankfurt angekommen. «
»Der lügt, fuck, der lügt! Wer immer es ist, der lügt«, meldete sich das Biafra-Knäuel aus dem Lederteil. »Ich habe dir doch gerade erzählt, dass wir Erfolg hatten. Die Patente sind im Arsch, Alter, sag ich dir, echt! Im Aharsch, Ahahaarsch!!«
»Halt die Luft an, FB, es ist Jonathan. Ich bin am Telefonieren. Lass mich für einen Moment sammeln und halt bitte die Klappe!«
Noch immer nicht voll im Besitz seiner geistigen Kräfte und sich nur mühselig sammelnd zu Jonathan gewandt: »Sorry, mein Freund. Ich muss irgendwie endmäßig weggetreten sein. Lange Zeit. Wie mein Kumpel FB auch. Es tut mir wahnsinnig leid, dass du dir Gedanken gemacht hast. Es soll nicht wieder vorkommen, aber ich habe, ob du es glaubst oder nicht, das dumme Handy wirklich nicht gehört. Und der gänzlich ausgelaugte FB erst recht nicht.«
Pause. Sammeln:
»Bitte, sage mir, wie es Stella geht. Und noch mal; verzeih mir, dass mich die Erschöpfung übermannte.«
»Franco, du hast nicht viel versäumt. Ich habe zwar, so wie du es mir aufgetragen hast, jede Stunde bei dir angerufen – deine Mailbox dürfte megavoll sein –, aber ich habe dir immer nur berichten können, dass es hier ruhig ist, dass sich nichts Aufregendes getan hat, dass niemand versuchte unbefugt an Stella heranzukommen, dass Stellas Mutter sich als wahrer Engel entpuppt, herzlich, einfühlsam und unglaublich um ihre Tochter besorgt, dass es mir gut geht, auch wenn ich es jetzt bin, der mal ausgiebigen Schlaf benötigt.
Vorhin, gerade mal zwanzig Minuten ist es her, war ich wieder im Krankenzimmer von Stella. Da geschah etwas sehr Eigenartiges. Stella fing plötzlich mit ihrer Mutter zu reden an. Stella liegt nach wie vor völlig unverändert auf dem Rücken, isst nichts, trinkt nichts, wird nach wie vor künstlich ernährt, bewegt sich nicht. Die Augen geöffnet, in die Weite, um nicht zu sagen in eine undefinierbare Leere schauend, die Hände entspannt an den Seiten ihres Körpers ausgestreckt, wie nach einer taoistischen Übung des Heilatmens, dem Dreifacherwärmer, liegt sie da und fängt wie aus dem Nichts an mit ihrer Mutter zu sprechen. Ich versuche dir den Dialog, der sich entspann, einigermaßen wortwörtlich wiederzugeben:
„Ich weiß nicht, wo du bist, Mutter. Aber du bist mir nah. Ganz nah. Das fühle ich. Und ich kann deinen Atem spüren, deinen Herzschlag fühlen. Er stimmt mit meiner Frequenz überein. Restlos. Sicher. Er gibt mir Sicherheit. Ich weiß, ich lebe, aber ich sehe mich nicht. Ich fühle mich nicht, höre nicht meinen Atem. Nur spüre ich, dass Energie zwischen uns beiden fließt. Rhythmus. Der gleiche Rhythmus. Harmonie. Die Kraft der Grenzen. Das Göttliche Dreieck. Alles ist in einem Atom. Das ganze Wissen des Alls. Es ist in dir und auch in mir. Wir haben es in uns. Bitte, bitte rufe auf deiner inneren Antenne den Channel ab, auf dem du mich empfangen kannst.“
Vermutlich wusste sie nicht, dass sie laut und deutlich redete, Franco. Ich war ziemlich perplex, denn ich glaubte anfangs, sie sei wieder bei vollem Bewusstsein, bis ich begriff, dass sie aus einem gewissen Unterbewusstsein heraus sprach, ohne es selbst zu wissen. Ihre Mutter war in den ersten Sekunden ebenso erschrocken wie ich. Sie schaute mich fragend an, ihre Blicke sprangen zwischen mir und ihrer Stella hin und her, bis sie sich voll und ganz auf ihre Tochter konzentrierte. Sie blieb in ihrem Sessel vor dem Fenster sitzen, schloss die Augen und versuchte, sich auf den Channel von Stella einzustellen. Ich traute mich nicht einmal mehr zu atmen, denn ich wurde Zeuge einer für mich sehr ungewöhnlichen Begegnung zweier Seelen.
„Stella, meine Liebste, mein anderes Ich. Ich spüre den Rhythmus deines Herzens in mir. Es ist, als gebäre ich dich in diesen Sekunden zum zweiten Mal. Ja, es ist wie eine Geburt. Du bist unendlich weit weg und doch in mir. Du entweichst mir, ohne dass ich dich verliere. Wir sind ein Ganzes und doch nicht. Ich fühle deine Seele. Ich kann sie sehen. Spiralen, leuchtende Spiralen. Wunderschöne Farben. Ich sehe die Tage, Wochen, die Monate. Jeder Tag hat eine andere Farbe. Jede Woche, jeder Monat. Die Jahre. Die Farben wiederholen sich in dieser Spirale, aber trotzdem empfinde ich Unterschiedlichkeiten. Alles klingt in mir wie ein großes Lied. Nein, eine Symphonie. Die Symphonie des Lebens. Es ist nur ein Ton, aber er schwingt in tausend verschiedenen Facetten, wird durch seine unglaubliche Vielfalt, seine Energie, zur Symphonie. Ein traumhafter Regenbogen, bestehend aus kosmischer, unfassbarer Schönheit von Musik in Form einer unendlichen Spirale. Wir sind in einem neuen Jahr des Wassermannzeitalters und alles wird gut werden. Heute muss Dienstag sein, das lichte Grün leuchtet, wie nur Dienstage leuchten. Bitte, erzähle mir, was du fühlst, was du denkst. Ich sehe dich in unendlich schönen Farben und weiß, dass ich dir helfen kann. Ich muss die Farben nur sortieren, Stella, meine Liebe.“
Stella antwortete wie in Trance:
„Mutter. Ich sehe einen Mann. Er ist hässlich und schön zugleich. Ich glaube, ich liebe ihn, obwohl ich ihn nicht kenne.“
„Wie sieht er aus, meine liebste Tochter?“
„Er hat unendlich große, dunkle, strahlende Augen. Er ist klein und zierlich, aber es geht von ihm eine ungeheure Energie aus. Rote Haare. Rote, krause Haare. Er ist schon sehr alt. Unglaublich alt. Aber er hat ganz junge Augen, ein junges Gesicht. Ist er alt? Er weiß so viel. Ich spreche ständig mit ihm. Er beschützt mich. Ich glaube, er ist sehr jung. Nein, er ist sehr alt. Eine alte Seele. Ich fühle Musik. Eine Melodie. Es ist eine Lebensmelodie. Seine Lebensmelodie. Ich werde sie aufschreiben. Hoffentlich kann ich sie festhalten. Von dem alten Mann geht Rhythmus aus. Ein wunderschöner, harter, treibender Beat. Sanft zugleich. Ich muss ihn aufnehmen. Dieser Rhythmus! Die Melodie dazu! Genial! Es wird ein Hit. Das wird DER Hit! Mutter, du bist doch bei mir?“
Dann ging durch Stellas Körper ein Zucken, wie man es erlebt, wenn ein Mensch von einem starken Stromschlag getroffen wird. Energie schien in sie einzudringen. Sie wand sich, ihr Körper versteifte sich, ihre offenen Augen fingen wild zu kreisen an, die Pupillen weiteten sich, schlossen