Die Hirten waren tags zuvor so geschwind den Berg hinauf geeilt, dass sie wirklich alle vier die grosse Herde noch erreichten, bevor der Sturm losbrach.
Da entdeckten sie nun, dass einige Schafe abseits von den andern ein gutes Stück weiter oben waren.
Diese mussten sofort geholt und zum Haufen getrieben warden.
Aufopfernd wie immer, wollte Júlli die Arbeit allein übernehmen.
Er lief von seinen drei Gefährten fort. Da es immer dunkler und dunkler wurde, verloren sie ihn bald aus den Augen, und dann überfiel sie auch schon der schreckliche Orkan....
Nun kannte man wenigstens so ungefähr die Gegend, wo Júlli begraben liegen musste. Am selben Tage aber fand man noch keine Spur von ihm.
Ach, war das eine Betrübnis auf dem ganzen Hofe und ein Herzeleid, besonders für uns, seine jüngeren Freunde!
Der arme Júlli! Was musste er wohl leiden unter dem kalten, tiefen Schnee! O, wir konnten es uns denken, da wir seine geretteten Kameraden gesehen hatten!
Wir weinten viele heisse Tränen um ihn, nichts konnte uns mehr trösten. Auch grosse Leute sah man weinen.
Gegen Abend wollten wir Kinder noch hinaus in die Spanische Hütte.
Ich weiss selbst nicht, wie das kam: wir waren so traurig und zu gar nichts aufgelegt, aber zur Spanischen Hütte, wo wir so oft und gern bei Júlli geweilt, zog es uns hin.
War jetzt auch ein neuer Hirt an seiner Stelle — wir konnten es freilich kaum glauben —, so hatten wir doch noch einen guten Freund dort, unsere liebe kleine Dúfa.
Die Herde war nämlich fast ganz ausgegraben und dann gleich heimgetrieben worden in die Ställe. Nur wenige Schafe fehlten noch.
Die Tiere schienen keinen Schaden gelitten zu haben. So munter und kampflustig, wie sie tags zuvor den Berg hinaufgezogen waren, kamen sie wieder herunter.
Wir gingen also zum Stall der Spanischen Hütte, um Dúfa einen Besuch zu machen.
Unter der Tür riefen wir ihren Namen.
Die Schafe schauten uns an, aber Dúfa kam nicht wie sonst auf uns zu.
Sollte sie am Ende nicht unter den Geretteten sein?
Ängstlich durchsuchten wir den ganzen Stall.
Dúfa war nicht da!
Wir suchten ein zweites, drittes Mal, jedes einzelne Schaf genau betrachtend. Doch vergeblich — unsere liebe, gute Dúfa fehlte! ...
Wir fingen an zu weinen und begaben uns auf den Heimweg. Unser Schmerz war jetzt doppelt gross. Gerade die zwei, die wir am liebsten hatten, waren nicht gefunden worden.
Der gute, teure Júlli und die arme, kleine Dúfa mussten noch einmal übernachten draussen unter dem eiskalten Schnee! —
Als wir zum Hofe zurückkamen, gingen eben zwei Männer mit Laternen fort. Sie wollten die Nacht hindurch nach Júlli suchen und bohren.
Wir Kinder aber beteten wie am Abend vorher inständig zu Gott, er möge doch Júlli und Dúfa nicht sterben lassen. —
Früh am nächsten Morgen wurden die beiden Männer von andern abgelöst und die mühsame Arbeit den ganzen Tag fortgesetzt.
So machten sie es vier volle Tage und vier lange Nächte. Durch die dicke Schneedecke wurden unzählige Löcher gebohrt, aber von Júlli fand sich keine Spur!
Schliesslich stellte man die Nachforschungen ein, denn jetzt konnte man mit Sicherheit annehmen, dass Júlli tot war.
Die fehlenden Schafe waren, mit Ausnahme von vieren, schon am zweiten Tage gefunden worden.
6. Wiedergefunden.
Auf dem Hof betrauerte alles den armen, unglücklichen Júlli.
Besonders wir Kinder weinten noch oft um ihn, wenn wir von ihm sprachen oder des Abends für ihn beteten.
Selbst unsere Spiele waren jetzt ganz anders geworden: wir verspürten nicht mehr so viel Lust dazu wie früher und waren lange nicht mehr so lebhaft dabei.
Die Zeit verging nur langsam.
Da endlich nach etwa vier Wochen wurden wir aus unserer Langeweile aufgerüttelt.
Wie damals, als man die Schafe auf die Weide trieb, kam auch jetzt wieder ganz plötzlich ein heftiger warmer Südwind dahergebraust.
Der Schnee schmolz so rasch, dass es eine förmliche Überschwemmung gab.
Haus und Hof und Stallgebäude standen bald wieder frei da, und vom Berge her begann es grün herabzuleuchten.
Man dachte sofort an Júlli und die vier Schafe, die noch fehlten. Jetzt mussten sie sich ja zeigen.
Aber auch diesmal hörte das Tauwetter plötzlich auf; wir bekamen wieder klares Frostwetter und Glatteis von dem Schneewasser.
Die Jahreszeit war schon vorgeschritten; es war Ende März. Da sind die grossen plötzlichen Schneestürme nicht mehr so zu fürchten.
Wir Kinder baten deshalb die Hausfrau, zusammen mit einem der Hirten auf den Berg gehen zu dürfen.
Die Erlaubnis wurde gegeben; doch musste der Hirt versprechen, dass er gut auf uns aufpassen werde.
So eilten wir denn hinaus voll Zuversicht, nun endlich unsere zwei Freunde zu finden.
Droben bei der Unglücksstätte verteilten wir uns nach verschiedenen Seiten und suchten und suchten.
Wir liefen bald da bald dort hin, vor und wieder zurück, schauten links und schauten rechts, aber von Júlli und Dúfa entdeckten wir keine Spur. —
Allmählich hatte ich mich ziemlich weit von den andern entfernt, doch kaum mehr als dreihundert bis vierhundert Schritte. Immerhin war ich am weitesten weg.
Da gab der Hirt mit seiner Flöte ein vorher verabredetes Zeichen, worauf wir Kinder uns sammeln und zu ihm kommen sollten.
Als ich das Zeichen hörte, richtete ich mich auf, sah hin nach dem Hirten und bemerkte, wie die Kinder von überall her zu ihm hinliefen.
Ich wollte gerade dasselbe tun, da geschah etwas Unglaubliches:
Die Eisrinde, auf der ich zu springen anfing, brach plötzlich durch, und ich sank zu meinem grössten Schrecken tief in den Boden hinein! ...
Im ersten Augenblick war ich wie gelähmt und konnte nicht einmal einen Schrei ausstossen; es schwand mir die Besinnung.
Ich war in ein unterirdisches Gewölbe hinabgestürzt!
Anfangs konnte ich gar nichts sehen, es war mir ganz funklig und schwindlig vor den Augen. Doch muss ich bald wieder zu mir gekommen sein.
Schmerzen spürte ich nicht. Ich stand auf und blickte scheu etwas um mich.
Da erschrak ich von neuem, dass ich am ganzen Leib zitterte, und jetzt schrie ich laut um Hilfe.
Vor mir stand nämlich ein schneeweisses Tier und sah mich mit leuchtenden Augen gerade an! Daneben lag ein zweites weisses Tier, das rührte sich nicht...
Erst nachdem ich den grössten Schrecken überwunden hatte, sah ich, dass beide Tiere weisse — Schafe waren!
Wer aber möchte die Überraschung beschreiben, die mir nun zu teil wurde! — Das stehende Tier, das mich so fest mit seinen glänzenden Augen anschaute, war — Dúfa! ...
Ich habe in meinen Knabenjahren mehr als einmal seltsame Erlebnisse gehabt; aber so wie dieses hat mich wohl keines überrascht und gerührt.
Ja, meine so lang und schmerzlich vermisste Dúfa stand leibhaftig vor mir und lebte!
Es schien mir, sie sei bedeutend grösser geworden in den vier Wochen, die sie hier unter dem Schnee lag.
Jetzt wich allmählich