Der Hausherr mit sorgenvoller Miene stand daneben.
„Wagt es lieber nicht“, sagte er mit beklommener Stimme; „die Gefahr ist allzu gross. Wir müssen die Schafe ihrem Schicksal überlassen.“
Júlli aber erklärte bestimmt:
„Wenn keiner mit mir geht, dann gehe ich allein.“
„Er ist feigur“3, flüsterte eine von den Mägden.
„Er weiss nicht, was er redet, er wird von seinem Schicksal getrieben“, sagten andere.
Der arme Junge! Ja, er war feigur!
Júlli besann sich nicht mehr lange. Er nahm einen langen Stab, der an dem einen Ende eine starke Eisenspitze hatte, und ohne ein Wort zu sagen, eilte er mit zwei kräftigen Hunden von dannen.
Er wandte sich aber noch einmal um und rief uns einen ganz kurzen Vers zu des Inhalts: wo viel auf dem Spiel stehe, da müsse auch viel gewagt werden.
Der gute, arme Júlli! Es sollte der letzte seiner vielen Verse sein, die er in diesem Leben gedichtet hat.
Ich sah ihm gerade ins Gesicht. Seine Wangen waren rot, seine Augen leuchteten in eigentümlichem Glanze.
Jetzt glaubte auch ich, dass er feigur war.
Als er seinen Spruch gesagt hatte, lief er, so schnell er konnte, fort in der Richtung nach dem Berge.
Drei Hirten und einige Hunde folgten ihm nach.
„Gott sei ihnen gnädig!“ sagten die Frauen und wischten sich mit dem Schürzenzipfel Tränen aus den Augen.
Sonst wurde kaum ein Wort gesprochen.
Schweigend ging man wieder in die Stube.
Einen von den Älteren hörte ich dort sagen:
„Das war Wahnsinn, bei diesem Wetter sich vom Hofe zu entfernen. Sie werden ganz gewiss eingeschneit und frieren sich zuschanden, wenn sie überhaupt mit dem Leben davonkommen.“
„Ja, ja“, fügte nachdenklich ein anderer hinzu, „sie hätten hier bleiben sollen; da droben werden sie ein kaltes Grab finden.“
Der Hausherr war sehr ernst und niedergeschlagen. Ehe er es hatte verhindern können, waren die mutigen Hirten fort, und er hatte jetzt wohl grosse Sorge um sie. —
Eine bange Viertelstunde verstrich.
Dann aber brach der Orkan los mit fürchterlicher Gewalt.
Die Schneemassen schlugen, vom Winde geworfen, mit solcher Wucht auf die Dächer, dass man es im ganzen Hause poltern und krachen hörte.
Ich lief unter die Haustür und starrte hinaus.
Welch ein Anblick!
Man sah weder Erde noch Himmel noch Luft.
Millionen von Schneeflocken wirbelten wie rasend durcheinander. Sie fielen fort und fort hernieder, stets gejagt von neuen Millionen: ein zahlloses Heer beschwingter Eiskristalle, die gekommen schienen, um die Erde zu überfallen und alles unter ihren mächtigen Massen zu begraben, Menschen und Tiere, Häuser und Höhen, Felsen und Klüfte. Nichts konnte ihnen widerstehen.
Wer jetzt draussen war im Freien, der war ihnen wehrund rettungslos ausgeliefert. Man musste sich lebendig begraben lassen und warten, bis der wilde Angriff aufhörte.
Selbst in den Häusern wurde es unheimlich.
Die Haustüren mussten geschlossen werden, damit es den Schnee nicht hereinwerfe und die Gänge verschneie.
Drinnen in der Stube versammelten sich die Leute. Niemand sprach ein Wort; alle waren wie gebannt von der unendlichen Macht der entfesselten Naturkräfte.
In wenigen Augenblicken ward es stockfinster, denn alle Fenster waren im Nu mit einer dicken Lage Schnee bedeckt. Man musste die Lichter anzünden.
Auf allen Gesichtern ruhte tiefer Ernst.
Auch ich sann still und stumm vor mich hin. Meine Gedanken aber weilten draussen auf dem Berge.
Wie wird es den vier Hirten gehen? dachte ich. Und mein lieber, guter Júlli! Er lag jetzt irgendwo tief unter dem Schnee. O, wenn er nur am Leben bliebe!
Mir wurde so weh in der Brust, dass ich hätte weinen mögen.
Und dann all die vielen Schafe, besonders die arme, kleine Dúfa, auch sie litten dasselbe Schicksal.
Während wir in der warmen Stube sassen, mussten sie draussen in dem schrecklichen Unwetter frieren, begraben unter dem kalten Schnee! ...
Der Orkan tobte noch mit ungeschwächter Kraft.
Ich wurde dadurch etwas von meinen trüben Gedanken abgelenkt.
Der rasende Sturm wurde in meiner Vorstellung zu einem unbändigen lebenden Wesen, das wie ein Berserker wutschnaubend über unsere Gegend hinfuhr.
Aber ach, solch dichterische Einfälle konnten meinen Sinn nicht lange fesseln. Immer wieder musste ich daran denken: unsere guten, braven Leute und die vielen hilflosen Schafe und Lämmer, sie waren verschneit und begraben! ...
So sassen wir in der grossen Stube da beim Lampenschein, wie wenn es stockfinstere Nacht gewesen wäre. Wann es Abend wurde, konnte man bloss an der Uhr merken.
Bevor wir Kinder zu Bett gingen, wollten wir nach dem Abendgebet Gott noch besonders bitten, er möchte doch Júlli und Dúfa und all den andern helfen.
Da wir schon die Erwachsenen hatten beten sehen, machten wir es ebenso wie sie: wir sassen da, die Hände vor dem Gesicht, und beteten, so andächtig wir es konnten, still und jedes für sich.
Allzu lang freilich dauerte es nicht. Die kleine Sigga war zuerst fertig und meinte kindlich aufrichtig, es könnte jetzt vielleicht genug sein.
So gingen wir denn zu Bette, ganz traurig und mit verweinten Augen.
Lange noch waren wir wach. Schliesslich aber wurden wir müd und schliefen ein. —
Mitten in der Nacht wurde ich geweckt: eine kleine Hand legte sich sachte auf meinen Kopf.
Ich schlug die Augen auf, sah aber nichts, denn es war ganz dunkel in unserem kleinen Schlafzimmer.
Ich griff nach der Hand. Es war Waldi, der aufgestanden und an mein Bett gekommen war.
„Nonni“, flüsterte er, „ich kann nicht schlafen. — Glaubst du, Júlli und Dúfa müssen sterben?“
„Ich weiss nicht!“ erwiderte ich leise.
Das war alles, was ich sagen konnte.
Wir wurden beide wieder so traurig, dass wir anfingen bitterlich zu weinen.
Der Orkan draussen toste noch immer; doch schien es, als wäre er endlich weiter fort.
Die andern Kinder schliefen, das hörten wir an ihren ruhigen Atemzügen.
Nach einer Weile sagte Waldi wieder:
„Warum ging aber Júlli auch hinaus? Das hätte er nicht tun sollen.“
„Nein“, antwortete ich, „das hätte er nicht tun sollen; aber er ist eben so mutig.“
„Ja“, fügte Waldi hinzu, „und er hat immer gesagt, er wolle lieber ein kurzes Leben mit Ehre als ein langes mit Schande.“ ...
Und dann ging der kleine Knabe weinend zurück in sein Bett.
Bald darauf schlummerten wir wieder ein und schliefen länger als gewöhnlich. Wir waren ja auch so müde gewesen von der grossen Angst und Sorge und Betrübnis. —
Als uns am Morgen das Mädchen den Kaffee ans Bett brachte, war unsere erste Frage:
„Wie ist das Wetter?“
„Die Stórhríð ist vorbei“, sagte sie; „sie