Noch ein Schritt. Nur ein Schritt. Ich halte meinen Blick fest auf die andere Uferseite gerichtet. So nah und doch unendlich fern. In mir drin überwältigt mich die Sehnsucht nach diesem verheißenen Land. Fast schlimmer als der Durst quält mich das Verlangen, dort anzukommen. Meine Füße finden kaum noch Halt auf dem schlammigen Boden und das Wasser rauscht unbarmherzig weiter.
Da erfasst mich eine unbändige Kraft und legt sich wie Fesseln um meine Füße. Ich falle, mein Kopf gerät unter Wasser und ich schnappe panisch nach Luft. Als ich mich wieder an die Oberfläche kämpfe, scheint die Luft von einer übernatürlichen Macht zu vibrieren. Das Wasser wird wie magnetisch nach oben gezogen. Strudelförmig bilden sich Wasserberge und das ewige, laute Rauschen des Flusses ist unterbrochen. Eine Wolke von kleinsten Wassertropfen erfüllt die Luft. Sprachlos beobachte ich, was vor meinen Augen passiert. Ich kann es nicht glauben. Das Wasser wird immer weniger, die Strömung immer schwächer und einige der großen Steine, die vorher inmitten des Flussbetts verborgen waren, werden plötzlich sichtbar und trocknen schon in der Sonne. Hier und da zappeln Fische um ihr Leben. In unglaublicher Schnelligkeit sinkt der Flusspegel. Das Hindernis löst sich buchstäblich in Luft auf.
Ich kämpfe mich etwas unsicher zurück auf meine Füße. Um mich herum staunende Stille. Niemand kann fassen, was gerade passiert ist: Der Weg ist frei. Das verheißene Land wartet darauf, erobert zu werden.
Entschlossen hole ich meine Rüstung und gehe los. Der Verheißung entgegen.
TEIL 1
VOM TRAUM
ZUR BERUFUNG
1AM ANFANG WAR EIN TRAUM – MEINE GESCHICHTE
Die Zukunft gehört denen, die an die Wahrhaftigkeit ihrer Träume glauben.
Eleanor Roosevelt
Seht hin; ich mache etwas Neues; schon keimt es auf. Seht ihr es nicht? Ich bahne einen Weg durch die Wüste und lasse Flüsse in der Einöde entstehen.
Jesaja 43,19
Das Telefon klingelte. Ich war bereits im Schlafanzug und hatte mich auf einen gemütlichen Abend im Bett mit einem guten Buch gefreut. Der Hörer wurde mir gebracht: »Jemand von der Jugendgruppe!« Innerlich stöhnte ich. Ich wollte meine Ruhe haben und nicht gezwungen sein, mir eine Ausrede auszudenken, um nicht auf dieses Jugendtreffen gehen zu müssen. Zögerlich nahm ich das Telefon entgegen. »Heute Abend wird ganz besonders, das willst du nicht verpassen! Kommst du? Wir können dich abholen!«
Zögernd sagte ich zu. Heute, gut 25 Jahre später, bin ich so dankbar, dass sich damals jemand die Zeit nahm, mich anzurufen und mich dazu zu überreden, zu diesem Jugendtreff zu kommen; dass mich jemand auf dem Herzen hatte und sich die Mühe machte, mir nachzugehen. Ich weiß nicht mehr genau, wer mich angerufen hat und warum diese Person so vehement darauf bestand, dass ich an diesem Abend dabei sein sollte – aber es sollte ein entscheidender Augenblick für mein Leben werden.
Wie alles begann
Ich zog also meinen Schlafanzug aus und meine Klamotten wieder an und machte mich auf den Weg. Der Jugendtreff fand im Gottesdienstsaal meiner Gemeinde statt und ich kann mich nicht daran erinnern, wer genau an diesem Abend predigte. Es war ein Missionar, glaube ich, und nachdem er mit seinem Vortrag fertig war, wollte er für jeden von uns Jugendlichen beten. Zu diesem Zeitpunkt hatte ich keine Ahnung, was ein prophetisches Wort war – aber ich sollte bald Erfahrung damit machen. Ich sehe mich noch vorne beim Rednerpult stehen. Rechts und links von mir andere Jugendliche, die für sich beten lassen wollten. Der Missionar ging von Person zu Person, legte die Hand auf unsere Köpfe und fing an zu prophezeien. Irgendetwas regte sich in mir. Das waren nicht einfach normale Gebete, da schwang etwas Übernatürliches, Außergewöhnliches, Kraftvolles mit. Etwas, das nicht nur rein menschlich war. Etwas Göttliches. Mein Herz fing laut an zu klopfen und schließlich kam ich an die Reihe. Der Mann legte seine Hand auf meinen Kopf und sagte mit klarer, lauter Stimme:
»Dein Leben wird abenteuerreich sein. Farbenfroher als je zuvor. Türen, die verschlossen sind, werden aufgetan.«
Und schon ging er weiter zur nächsten Person, aber mein kleines Leben war für immer verändert.
Ich war damals 12 oder 13 Jahre alt. Mit kindlicher Naivität dachte ich, diese Worte würden sofort alles auf den Kopf stellen. Feinsäuberlich schrieb ich sie in meine Bibel. Mit Datum. Ich wusste instinktiv, dass sie nicht von diesem Mann kamen, sondern direkt vom Herzen Gottes. Sie fanden ein Echo in meinen innersten Wünschen und meinen geheimsten Sehnsüchten.
Ein Leben voller Abenteuer. Wunder. Aufregung und Abwechslung. Seine Worte spiegelten genau das wider, was ich mir vom Leben erhoffte und erwünschte, was aber so gar nicht in den Rahmen passte, in dem ich aufwuchs. Zum Beispiel wurden mir, wie allen Jugendlichen in meinem Alter, in der Schule die klassischen Berufe ausführlich vorgestellt. Nichts interessierte mich wirklich. Ich wollte etwas anderes mit meinem Leben machen, etwas, das ich nicht greifen oder beschreiben konnte. Was ich definitiv nicht wollte: meine Zukunft penibel bis zur Rente planen. Ich wollte mich nicht in ein System pressen lassen, das mir im tiefsten Inneren widersprach. Ich wollte das Leben auskosten, ich wollte Risiken eingehen, ich wollte einfach leben. Ich spürte schon damals, dass ich mit meinen verrückten Träumen aneckte und nicht wirklich dazu passte. Diese Worte, die an jenem Abend über meinem Leben ausgesprochen wurden, waren daher wie erfrischendes Wasser, wie eine Leben spendende Transfusion – ich ahnte plötzlich, dass Gott auf meiner Seite war und ganz ähnlich dachte und träumte wie ich. War ich in seinen Augen vielleicht gar keine durchgeknallte Spinnerin? Fand er womöglich, dass meine Gedanken gar nicht so abwegig waren? War ein Leben voller Abenteuer und Farben tatsächlich möglich?
Sehnsucht nach Mehr
Meine ganze Jugendzeit hindurch war ich hin- und hergerissen zwischen meiner Sehnsucht nach Mehr und all den Hindernissen, denen ich begegnete. Ich wollte unbedingt reisen und die Welt sehen und gleichzeitig quälten mich so große Verlustängste, dass es mir kaum möglich war, mein Zuhause zu verlassen. Ich kann mich an einen mehrwöchigen Aufenthalt in einem Kloster erinnern, wo ich mit anderen jungen Frauen am ganz normalen Tagesablauf der Schwestern teilnahm und einen anderen Lebensrhythmus kennenlernte. Ich weiß noch, dass ich für eine Woche nach Israel flog und einer alleinerziehenden jüdischen Mutter mit ihren zwei kleinen Kindern half. Ich habe auch meine Brieffreundin in England besucht und an der einen oder anderen Jugendfreizeit teilgenommen. Doch immer begleiteten mich Ängste: die Angst, dass mir etwas zustoßen könnte (ich sah vor meinem inneren Auge Flugzeuge explodieren und Autos kollidieren), die Angst, dass mein extrem schlimmes Heimweh mich überwältigen würde, die Angst, dass ich krank werden würde. Ich hatte also eine große Sehnsucht nach Abenteuer und gleichzeitig empfand ich mich als die ungeeignetste Kandidatin für ein Leben da draußen in der großen, weiten Welt.
Je mehr mein Schulabschluss nahte, desto unsicherer wurde ich. Was sollte ich mit meinem Leben anfangen? Welchen Beruf sollte ich ergreifen? Die verschiedenen Möglichkeiten kamen mir so unattraktiv vor wie eh und je.