Der Reichskanzler – Bismarck«
Den geschichtlichen Hintergrund – die »Rheinkrise« von 1840 zwischen Frankreich und dem Deutschen Bund, hier nur kurz angerissen – muss man kennen, um die Bedeutung dieser Lieder zu verstehen. In demselben Kontext nämlich entstand das »Lied der Deutschen« von August Heinrich Hoffmann von Fallersleben (1798–1874).
Verbreitung fanden diese nationalistisch-patriotischen Lieder zunächst vor allem über Kommersliederbücher der Burschen-, Studenten- und Turnerschaften, schon bald gehörten sie zum Repertoire von Männerchören. Nicht immer war der Originaltext abgedruckt, die Bearbeiter und Komponisten erlaubten sich gelegentlich Variationen. »Die Wacht am Rhein« war Gegenstand des Musik- und Deutschunterrichts, an altsprachlichen Gymnasien wurde sie sogar ins Lateinische, Altgriechische und Hebräische übersetzt.3 Das Lied war allgegenwärtig, im häuslichen Umfeld und in Kneipen und bei vielen anderen Anlässen wurde es gesungen, es erklang aus Spieldosen und Musikautomaten und bei Volksfesten aus der Drehorgel. Sogar Wirtshäuser und Hotels gaben sich diesen Namen. Das Lied wurde so oft geträllert und geleiert, dass es manchmal schon nicht mehr zu hören war. Der Widerwille gegenüber der Omnipräsenz äußerte sich auch in parodistischen Umdichtungen, z. B.:4
Die Wacht am Rhein,
das ist der Titel des Liedes,
das im Schwange geht.
Es ist ein ganz probates Mittel
für einen, der sonst nichts versteht.
Darum, bei Mond und Sonnenschein
sing ich nur stets die Wacht am Rhein,
die Wi-Wa-Wacht am Rhein, die Wacht am Rhein.
Eine weitere Neuschöpfung in drei Strophen erschien unter dem Titel »Die Freiheitswacht«:5
Es geht durchs Land ein Schrei der Not:
Des Volkes Freiheit ist bedroht.
Viel dunkle Raben fliegen schon
und krächzen laut: Reaktion!
D’rum deutsches Volk, sei auf der Hut,
schirm’ fest und treu dein höchstes Gut,
d’rum deutsches Volk, mein Volk, sei auf der Hut,
schirm’ fest und treu, ja treu dein höchstes Gut …
Lieder dienen der Identifikation, der Verständigung, der Gemeinschaftsbildung, mit ihnen grenzt man sich von anderen ab. Diese Funktion übernahmen im Ersten Weltkrieg das »Lied der Deutschen«, ebenso die »Wacht am Rhein«, wie folgende Aussagen belegen. Danach allerdings, mit dem Ende des Kaiserreichs, hatte die »Wacht« weitgehend ausgedient.
Aus dem Vorwort zum Liederbuch »Unsere Feldgrauen. Marsch- und Lagerlieder«, 1914:6
»Mit dem ersten Tag der Mobilmachung war ›Die Wacht am Rhein‹ wieder mit einem Male in aller Munde. Unter ihren trotzigen, siegesgewissen Klängen sind unsere Krieger blumengeschmückt aus der Heimat ins Feld gezogen; in dröhnendem Takte sind sie mit diesem stolzen Sang in die feindlichen Städte eingezogen […]. Wie sich unsere Feldgrauen da draußen mit einem munteren Sang über die harten Anstrengungen der Märsche hinweghalfen, sich die kurzen Stunden der Rast am Lagerfeuer verschönern, so wollen auch wir daheim nicht stumm bleiben und in den Gesang unserer Lieben im Felde froh und zuversichtlich miteinstimmen.«
Auch Adolf Hitler (1889–1945) erinnerte sich rückblickend an die »Wacht am Rhein«, als er im Herbst 1914 mit dem Truppenzug auf dem Weg zum »beginnenden Heldenkampf« an der Westfront durch Bingen kam und die »Germania« erblickte:7
»Und so kam endlich der Tag, an dem wir München verließen, um anzutreten zur Erfüllung unserer Pflicht. Zum ersten Male sah ich so den Rhein, als wir an seinen stillen Wellen entlang dem Westen entgegenfuhren, um ihn, den deutschen Strom der Ströme zu schirmen vor der Habgier des alten Feindes. Als durch den zarten Schleier des Frühnebels die milden Strahlen der ersten Sonne das Niederwalddenkmal auf uns herabschimmern ließen, da brauste aus dem endlos langen Transportzuge die alte Wacht am Rhein in den Morgenhimmel hinaus, und mir wollte die Brust zu eng werden.«
Rund 25 Jahre später, zu Beginn des Westfeldzugs (Mai 1940), leitete der Großdeutsche Rundfunk die Sondermeldungen über die militärischen Erfolge der Wehrmacht in Frankreich mit der charakteristischen »Frankreichfanfare« ein; die ersten acht Töne entsprachen der »Wacht am Rhein«. Ein Jahr später trat an ihre Stelle die »Russlandfanfare«. Doch ganz ausgedient hatte der bekannte Titel nicht; im Dezember 1944 verwendete die Wehrmacht die vier eingängigen Wörter als Decknamen für die Ardennenoffensive.
Sogar in dem US-amerikanischen Filmklassiker »Casablanca« (1942) mit Humphrey Bogart (1899–1957) und Ingrid Bergman (1915–1982) ist das Lied zu hören: Nachdem die deutschen Offiziere in »Ricks Bar« die »Wacht am Rhein« angestimmt haben, animiert der Protagonist die Kapelle dazu, die Marseillaise zu spielen. Die anderen Gäste stimmen ein und übertönen die »Wacht am Rhein« voller Enthusiasmus. Bei dieser direkten Gegenüberstellung merkt man, wie sich beide marschartigen Melodien ähneln. Auch in anderen Literaturverfilmungen, die im Kaiserreich angesiedelt sind, ist das Lied auszugsweise zu vernehmen, etwa in »Im Westen nichts Neues« (1930, 1979) nach dem Roman von Erich Maria Remarque (1898–1970) oder in der Serie »Berlin Alexanderplatz« (1980) von Rainer Werner Fassbinder (1945–1982). Ferner gehört es zur bemerkenswerten musikalischen Untermalung der Schlussszene des Films »Der Untertan« (DDR, 1951): Bei Enthüllung des Kaiser-Wilhelm-Denkmals im Sturm und Gewitterregen erklingen Melodiefetzen der »Wacht am Rhein«, des »Horst-Wessel-Liedes« und der Sondermeldungsfanfare des Großdeutschen Rundfunks; damit blickt die Szenerie – im Gegensatz zur Romanvorlage von Heinrich Mann (1871–1950) – auch auf den Nationalsozialismus und den Zweiten Weltkrieg.
Im Rückblick von 150 Jahren interpretierte der Autor Jörg von Uthmann (geb. 1936) die »Wacht am Rhein« auf seine Art:8
»Wie sich die Zeiten ändern! Wenn heute vom Rhein die Rede ist, denkt jeder sofort an Chlorbenzol und tote Fische. Vor hundertfünfzig Jahren sang das deutsche Volk mit dem Bonner Geschichtsschreiber Nikolaus Becker ›Sie sollen ihn nicht haben, den freien deutschen Rhein!‹ Sie – das war nicht die chemische Industrie, das waren die Franzosen. Auf dem Wiener Kongress hatte Frankreich seine linksrheinischen Eroberungen herausgeben müssen. Wirklich abgefunden mit dem Verlust hatte es sich jedoch nicht. 1840, nach einer schweren diplomatischen Schlappe im Nahen Osten, suchte Premierminister Thiers die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit abzulenken. Er verlangte die Rheingrenze und war bereit, dafür in den Krieg zu ziehen. Zwar blitzte er bei seinem friedfertigen König Louis Philippe ab und musste zurücktreten. Aber das Unglück war geschehen: Die alte Wunde begann wieder zu bluten.
Während die Pariser Presse in schrillen Tönen nach einer Revision des schmachvollen Friedens schrie, machten sich in Deutschland