Rechtfertigt das russische Sicherheitsbedürfnis den Raubkrieg gegen das entschlossen Widerstand leistende kleine Finnland 1939? Und vergessen wir nicht die unendlichen Leiden, die im Namen eines russischen Sicherheitsbedürfnisses dem russischen Volk selbst zugefügt wurden, insbesondere von Stalin.
Dies alles ergibt eine erdrückende Anklage gegen das kommunistische Regime in Moskau. Und selbstverständlich kann ein noch so berechtigtes Sicherheitsbedürfnis nicht als Entschuldigung dienen.
Aber: welche Nation gehörte hier nicht auf die Anklagebank? Kann man, darf man, muß man das politische Handeln der Völker und ihrer Führer in die moralischen Schranken fordern? Als Idee der Philosophen wird diese Frage schon so lange bejaht, wie Menschen ein menschenwürdiges Zusammenleben fordern – zwischen Individuen wie zwischen Völkern. Als Maxime praktischer Polemik machte erst unser Jahrhundert Ansätze zur Verwirklichung dieser Idee einer humanen Politik.
Der Nürnberger Prozeß 1945 verurteilte die Hauptschuldigen des Hitler-Staates wegen ihrer Kriegsverbrechen und ihrer Verbrechen gegen die Menschlichkeit. Ein internationales Recht schien zu triumphieren. Aber das große »Schuldig!« wurde auch von einem sowjetrussischen Ankläger ausgesprochen, dem General Rudenko. Und hätten nicht auch die Verantwortlichen für die sowjetischen Verbrechen gegen die Menschlichkeit auf eine zu erweiternde Anklagebank gehört? Die Verbrechen Stalins standen denen Hitlers wohl kaum nach. Und – ich möchte auch das aussprechen: die Bombardierung Dresdens, die Atombombe auf Hiroshima und Nagasaki waren auch Verbrechen gegen die Menschlichkeit.
Wenn wir dies klar und ruhig sehen – ohne moralische Entrüstung, ohne Rache-für-irgendwas-Geschrei, dann gewinnen wir eine Chance, den Völkerhaß zu überwinden, das Aufrechnen von Schuld beiseite zu lassen, weil uns die Forderung nach Sühne nur in neue Schuld führen würde. Mir schien dieser Blick in die tieferen Gründe und Abgründe, in den Zusammenhang von Sicherheitsbedürfnis und Aggression notwendig, weil jedem Begreifen russischer Politik bei uns Deutschen dieses ewige Gegeneinander-Aufrechnen von Wechselweise zugefügter und erlittener Schuld im Wege steht. Lassen wir es also beiseite und blicken wir über die Mauer zwischen uns hinweg, über die Mauern quer durch Berlin und über die Mauern in uns selber. Versuchen wir: zu verstehen.
1955 reiste der damalige Bundeskanzler Konrad Adenauer nach Moskau. Als Rundfunkberichterstatter hatte ich damals Gelegenheit, an Ort und Stelle zu beobachten, wie die Aufnahme diplomatischer Beziehungen zwischen Bonn und Moskau manchen der engsten Berater Adenauers überraschte, ja bestürzte. Dennoch war sie ein Akt des Realismus. Allerdings, deutsche Botschafter in Moskau konnten bisher wenig ausrichten. Wie nimmt sich die Schachfigur DDR auf dem Brett der Sowjetunion aus, wenn man sie von Moskau her betrachtet?
Sicherlich spielt die DDR für die Sowjetunion auch im Verhältnis zu den anderen Satelliten eine hervorragende Rolle. Sie ist militärisch gesehen die Vorhut im Herzen Europas, sie verhindert das Wiederererstehen der durch die Sowjetunion stets gefürchteten politischen und militärischen Macht in Deutschland. Auf dem Gebiet der Wirtschaft hat die DDR innerhalb des sowjetischen Machtbereichs eine ausgesprochene Spitzenposition, denn was man den »Ulbricht-Staat« genannt hat, was man bei uns lange nur in Anführungsstrichen geschrieben und gedacht hat, die sogenannte »sogenannte DDR« ist in einem Sinne wirklich »ein Phänomen«, wie Kurt Georg Kiesinger die DDR einmal nannte: die DDR ist ein Phänomen als Wirtschaftsmacht. Auch dieser Teil Deutschlands erlebte, nein erarbeitete ein wirtschaftliches Comeback, das vielen Beobachtern als ein ähnliches Wunder erscheint wie das vielzitierte deutsche Wirtschaftswunder in der Bundesrepublik.
Die DDR gehört heute zu den ersten zehn Staaten auf der ökonomischen Weltrangliste – mit nur 17 Millionen Einwohnern. Das Einkommen pro Kopf der Bevölkerung liegt in der DDR vor den vergleichbaren Zahlen aller anderen osteuropäischen Länder und sogar weit vor der UdSSR.
Die DDR-Wirtschaft ist in die Ostblockwirtschaft mindestens so weitgehend integriert wie die Wirtschaft der Bundesrepublik in das System des Gemeinsamen Marktes in Westeuropa. Hier sind auf beiden Seiten der Mauer vollendete Tatsachen geschaffen. Wie ernst müssen gerade sie genommen werden? Sind sie je rückgängig zu machen? Hierzu der Präsident des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung in Berlin, Staatssekretär Dr. Klaus Dieter Arndt:
»Wenn wir über die DDR nachdenken, vergleichen wir sie unwillkürlich mit uns. Wir kommen zu den Ergebnissen, im Schnitt gesehen sind Produktivität und Lebensstandard dort nicht unerheblich niedriger als in der Bundesrepublik Deutschland. Bei diesem Vergleich übersehen wir etwas Wichtiges. Im Rahmen nämlich der osteuropäischen Volkswirtschaften, verglichen mit ihnen, ist die DDR recht erfolgreich. Sie übertrifft die Staaten des COMECON etwa im selben Maße, wie sie hinter der Bundesrepublik zurückbleibt. Spricht man in Osteuropa von den reichen Deutschen, so meint man alle Deutschen, auch die in Rostock und Leipzig, und man meint, daß so ein reicher Staat besondere Verpflichtungen gegenüber seinen weniger reichen Nachbarn hätte.
Das ist deutsches Erleben in zweifacher Ausfertigung. Die DDR ist eine industrialisierte Volkswirtschaft wie früher, als Mitteldeutschland Teil des Deutschen Reiches war. Nur wickelt sie heutzutage über 70 % ihres Außenhandels mit den COMECON-Ländern ab und weniger als 10 % mit der Bundesrepublik.
Diese DDR-Exporte sind für die Sowjetunion, sind für andere osteuropäische Länder sehr wichtig, mitunter sogar lebenswichtig. Zum Beispiel kommen die gesamten sowjetischen Einfuhren an Maschinen und Ausrüstung allein zu 27 % aus Mitteldeutschland. Bei Einzelerzeugnissen besteht praktisch ein Monopol. Rußland liefert dafür Rohstoffe.
Das ist eine erstaunliche Einengung der internationalen Arbeitsteilung auf wenige Länder. Sie hat politische Gründe, denn wirtschaftlich ist sie unvorteilhaft. Ein Industrieland drängt zum Austausch mit anderen Industrieländern, muß seine Kräfte messen, muß zum Weltniveau aufschließen.
Hinzu kommt der ständige Kampf mit Engpässen und Überschußproduktionen. Dieser Kampf kann ohne Austausch mit den beweglichen Volkswirtschaften des Westen nicht erfolgreich geführt werden. Hier liegt eine ökonomische Chance. Nicht zur Aufweichung, nicht von Umgehungsmanövern, sondern eine Chance zu besserer wirtschaftlicher Entwicklung für beide, für alle, eine Chance, die vor allem der Mensch an Ort und Stelle in seiner Kaufkraft spüren wird.
Freilich gehören zum Nutzen dieser Chance immer zwei, beide Partner. An der Bundesrepublik hat es in den letzten Jahren nicht gefehlt, und der innerdeutsche Handel hat sich gut entwickelt. Dennoch, die Vergangenheit lastet schwer, sie läßt sich nicht rückgängig machen. 70 % Ostintegration im Warenaustausch lassen sich vermindern, der Schwerpunkt wird jedoch bleiben.«
Der Kommunismus ist eine Ideologie. Was ist darunter zu verstehen? Seine geistigen Väter gingen von der Bedeutung des rechten Bewußtseins im politischen Kampf aus. Bei Marx ist dieses Bewußtsein Ausdruck des Klasseninteresses. Die Frage wurde bereits angeschnitten, inwieweit die Russen noch Kommunisten sind oder heute eine gleichsam klassische nationalistische Real- und Machtpolitik betreiben.
Dehnen wir die Frage auf das politische System der DDR aus. Inwieweit ist Ulbricht Kommunist, inwieweit nur Prokonsul seines östlichen Roms, also Moskaus? Kann er heute eine in etwa selbständige nationale Außenpolitik machen?
Welche Rolle spielte und spielt die kommunistische Ideologie »auf dem Schachbrett der Sowjetunion«? Ich fragte danach Wolfgang Leonhard, der 1945 mit der sogenannten »Gruppe Ulbricht« aus Moskau nach Ostberlin kam, später in die Bundesrepublik übersiedelte und sich seither immer wieder kritisch mit der hier untersuchten Frage beschäftigte.
»In den kommunistisch regierten Ländern sowjetischen Typs – ich möchte mich ausdrücklich auf diese beschränken und Jugoslawien, aber auch China und Kuba ausnehmen – dient die Ideologie in erster Linie der nachträglichen Rechtfertigung politischer Maßnahmen der Führung. Sie dient der Legitimität der neuen Macht, der neuen herrschenden Schicht. Der Marxismus, entstanden als eine Befreiungslehre der Unterdrückten, ist zu einem Rechtfertigungssystem degradiert worden, und zwar für ein System, das mit den ursprünglichen Vorstellungen von Marx und Engels nur sehr wenig gemein hat. Das gilt sowohl für die Sowjetunion als auch für die DDR.
Was die DDR anbetrifft, so müssen wir wohl zwei Phasen