Tanja Noy
Todesruhe - Ein Fall für Julia Wagner: Band 2
Für Katja.
Immer.
Saga
Todesruhe - Ein Fall für Julia Wagner: Band 2Coverbild/Illustration: Shutterstock Copyright © 2014, 2020 Tanja Noy und SAGA Egmont All rights reserved ISBN: 9788726643077
1. Ebook-Auflage, 2020
Format: EPUB 3.0
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PROLOG
April 2010
Es war 3:34 Uhr, als Dr. Michael Jöst im Klinikum Hannover angepiepst wurde. Kurz darauf teilte man ihm mit, dass gerade zwei Frauen eingeliefert worden seien. Eine von beiden hätte schwere Schussverletzungen.
„In Ordnung“, sagte Jöst müde. Er hatte seit zwölf Stunden Dienst und gerade erst einen Schwerverletzten hinter sich gebracht, der nach einem Unfall von der Feuerwehr aus seinem Auto herausgeschnitten werden musste. Nun saß er im Bereitschaftszimmer, blickte aus dem Fenster und sah, dass es am Himmel heftig blitzte. Er nahm einen letzten Schluck kalten Kaffee, dann eilte er mit schnellen Schritten in die Notaufnahme.
Sein Kollege kümmerte sich um die erste Patientin, die hereingefahren wurde: Die Frau war eindeutig unterkühlt, mit diversen Schnittverletzungen und Löchern in Händen und Füßen. Es sah gerade so aus, als wären große Nägel hindurchgeschlagen worden.
Jöst selbst fiel es zu, sich um die zweite Patientin zu kümmern, die Frau mit den Schussverletzungen. Er untersuchte die Bewusstlose kurz und stellte fest, dass sie dreckverkrustet, blutverschmiert und schwer verletzt war. Eine Kugel war in die linke Seite eingeschlagen und zwischen der zweiten und dritten Rippe stecken geblieben. Die andere steckte knapp unterhalb des Herzens.
„Wir haben ihren Ausweis“, sagte eine der Krankenschwestern. „Ihr Name ist Julia Wagner.“
„Röntgen.“
Und dann begann seine Arbeit.
Zur selben Zeit warf Polizeiobermeister Arnulf Ebeling todmüde einen Blick auf die Uhr, während die Worte eines sichtlich erbosten Polizeichefs in Schallgeschwindigkeit an ihm vorbei rauschten. „Dilettant“ und „personifizierte Inkompetenz“ war noch das Freundlichste, was ihm um die Ohren flog. Und es war noch lange nicht zu Ende: „Wie konnten Sie alleine in diese Kapelle stürmen, wo Sie doch davon ausgehen mussten, dass sich dort ein hochgefährlicher Serienmörder aufhält? Der Mann hat mindestens fünf Menschen umgebracht, nach allem, was wir bis jetzt wissen. Und da marschieren Sie einfach so rein, als hätte er betrunken eine Spazierfahrt gemacht?“
Ebeling schloss für einen kurzen Moment die Augen. Er hatte gewusst, seine Zeit bei der Polizei war ohnehin beendet. Er hatte Fehler gemacht. Zu viele Fehler. Und vielleicht war gerade das der Grund gewesen, weshalb er, ohne noch einmal darüber nachzudenken, in die Kapelle gestürmt war, wo er Wolfgang Lange erschossen hatte, nachdem er den Anruf von Edna Gabriel bekam.
Nun lag ein hoch geachteter Kriminalbeamter tot auf dem Boden der alten Kapelle. Daneben ein ebenso erschossener katholischer Pastor und zwei Frauen: die eine mit zwei Kugeln im Leib, die andere lebendig an ein Kreuz genagelt.
Das war gar nicht gut. Und so war die erste Amtshandlung, die Ralf Jockel beging, kaum dass er am Tatort angekommen war, zu brüllen, dass er gefälligst eine Erklärung erwarte „für die verfluchte Scheiße hier“!
Ebeling erklärte ihm so ruhig wie möglich, dass Wolfgang Lange – der hoch geachtete Polizist – ein Satanist gewesen sei.
„Satanist?“, spie Jockel aus und wies einen Kollegen an, Ebeling fortzuschaffen und ins Irrenhaus zu bringen.
Ebeling protestierte und erklärte, dass Lange tatsächlich ein hochgefährlicher Mann gewesen sei. Es hätte nicht so viele Tote gegeben, so gestand er immerhin ein, wenn er sich früher eingeschaltet und durchschaut hätte, was in seiner Dorfgemeinschaft in Wittenrode tatsächlich vor sich ging.
Daraufhin blickte Jockel überhaupt nicht mehr durch. Er nannte Ebeling einen inkompetenten Trottel und brüllte: „Ich werde Sie wegen jedem einzelnen Ihrer Dienstvergehen drankriegen! Sie werden auf einem Polizeirevier nicht einmal mehr Bleistifte anspitzen! Darauf können Sie sich verlassen!“
Das wusste Ebeling, und deshalb schwieg er. Selbst wenn er hätte antworten wollen, er wäre gar nicht dazu gekommen, weil Jockel bereits die nächste Frage in Richtung Himmel brüllte: „Und warum, in drei Teufels Namen, wollte Lange ausgerechnet diese beiden Frauen umbringen?“
„Ich vermute, es geht um Sven Wagner.“
„Sv…“ Jockel brach ab und hustete. „Was hat Sven Wagner damit zu tun?“
Ebeling wischte sich den Schweiß von der Stirn. „Eine der beiden Frauen ist seine Tochter.“
Einen kurzen Moment hielt Jockel inne. Dann hob er langsam eine Hand und deutete dem Krankenwagen hinterher, der schon lange nicht mehr zu sehen war. „Das war Julia Wagner?“
„Sie kennen sie?“
„Natürlich kenne ich sie! Wie ich auch Sven Wagner kannte. Er hat 1987 die Anklage gegen Bruno Kalis erhoben. Den Teufelsmörder!“
„Kalis war nicht der Teufelsmörder. Der Fall war manipuliert.“
„Manipuliert.“
Ebeling lächelte schwach, weil ihm selbst klar war, wie verrückt sich die ganze Geschichte anhören musste. „Sie haben Kalis mit Absicht über die Klinge springen lassen, weil sie einen Mörder brauchten. Für die Presse und für die Öffentlichkeit. Vielleicht steckt aber auch noch mehr dahinter. Ich weiß nicht, worum es wirklich ging.“
„Sie?“, zischte Jockel.
„Wolfgang Lange, der damals leitende Ermittler. Ta Quok, sein Kollege bei der Kripo. Sven Wagner, der leitende Staatsanwalt. Und der damalige Polizeichef Norbert Kämmerer.“
Jockel wurde immer blasser.
„Sie werden auf Frau Wagners genaue Aussage warten müssen, aber ich weiß, dass Wolfgang Lange der wahre Teufelsmörder war“, fügte Ebeling hinzu. „Über zwanzig Jahre hat er nach den drei Morden damals stillgehalten. Jetzt hat er wieder zugeschlagen. Und alles mit dem Ziel, Julia Wagner zu töten. Und das hat irgendetwas mit ihrem Vater zu tun.“
„Sven Wagner ist seit über zwanzig Jahren tot“, stellte Jockel fest.
„Ich weiß.“ Ebeling hob müde die Schultern. „Und trotzdem …“
„Und wenn er damals tatsächlich vorsätzlich eine falsche Anklage erhoben hat“, zischte Jockel hinterher, „dann war er kriminell.“
„Ja. Das waren sie wohl alle. Irgendwie.“
Dreizehn Stunden später
16:34 Uhr
Oberstaatsanwältin Carina Färbert verschaffte sich einen Überblick über die Situation. Was sich da in dem kleinen Örtchen Wittenrode abgespielt hatte, war eine grauenhafte Geschichte, und in den letzten Stunden waren in dem gerade mal vierhundert Einwohner zählenden Nest von allen Seiten Unmengen an Überstunden angehäuft worden.
Kein Wunder, denn hier ging es gleich um mehrere Verbrechen: der Mord an dem örtlichen Schlachter und der Selbstmord seiner Frau, die hinterhältig in den Tod getrieben worden war; der Mord an einem ehemaligen Polizeichef sowie an einer Bäckersfrau, der von ihrem Mann die Kehle durchgeschnitten worden war – wenigstens dafür schien Wolfgang Lange nicht verantwortlich zu sein. Dann der Mord an einem gewissen Greger Sandmann aus Berlin und an einem katholischen Pastor. Und zuletzt die gefährliche Körperverletzung an einer Frau aus Hamburg, die lebendig an ein Kreuz genagelt