»Gabriel.« Sue warf einen kurzen Blick zu ihrem Ältesten.
Zwei Hände packten Cam unter den Armen und Gabriel zog ihn von der Couch fort. Cam hätte dagegen protestiert, doch die Bewegung ließ seine Kopfschmerzen explodieren und er brauchte all seine verbliebene Kraft, um die Übelkeit in Schach zu halten. Es wäre megapeinlich gewesen, wenn er George und Linda vor den Kamin gekotzt hätte.
»Atme langsam und gleichmäßig.« Gabriel lehnte Cam gegen einen der Kaminsessel und legte ihm eine Hand auf die Stirn. »Es wird gleich besser.« Er nahm Cams Hand. »Nimm dir alles, was du brauchst.«
Die Berührungen gaben Wärme und Cam merkte plötzlich, wie verflixt kalt ihm war. Er fühlte die Energie, die Gabriel ihm versprach, blockte ihn aber trotzdem ab und ließ die Verbindung nicht zu.
»Musst du heute Nacht noch arbeiten?«, fragte er matt. »Dann darfst du mir keine Energie geben. Das wäre zu gefährlich.«
Gabriel schnaubte. »Kleiner, was glaubst du wohl, was mir wichtiger ist? Du oder mein Job?« Bedeutungsvoll bohrte er seinen Blick in Cams. »Aber keine Sorge. Ich hab frei. Wir haben diese Woche so viele Doppelschichten geschoben, dass der Commander uns erst am Montag wiedersehen will. Also wehr dich nicht und lass mich dir helfen.«
Cam gab nach und ließ die Verbindung zu. Gabriel behielt seine Hand auf Cams Stirn, bis Kopfschmerzen und Schwindel verschwunden waren, dann zog er sie zurück, hielt aber mit der anderen weiter Cams Hand und half ihm, seine Kräfte zu regenerieren.
Müde lehnte Cam den Kopf gegen das Sitzkissen des Sessels und schaute zu Sammy hinüber. Sue kniete neben der Couch und hatte ihre Hände auf Herz und Stirn des Kleinen gelegt, um ihm beim Aufwachen zu helfen. Am anderen Ende der Couch hockte Phil bei Lily und hatte die Kleine gerade untersucht. Die Fünfjährige war bereits wieder wach, schmiegte sich in die Arme ihre Mum und grinste, als Phil ihr erklärte, dass planschen in der Badewanne die beste Medizin gegen Geisterkälte war, außerdem eine große Portion Abendessen, danach kuscheln mit Mum und Dad und eine heiße Milch mit Honig.
»Au ja, Honigmilch will ich nachher auch«, seufzte Ella sehnsüchtig.
Sie saß auf einem flauschigen Teppich neben dem Sofa und lehnte sich an ihre große Schwester. Sky hatte den Arm um sie gelegt und hielt Ellas Hand, doch Cam sah keinen Silbernebel zwischen den Fingern der beiden. Anscheinend brauchte Ella keine fremde Energie, um ihre Kräfte zu regenerieren. Sie sah zwar ein bisschen blass aus und war regendurchnässt, wirkte ansonsten aber völlig munter und kein bisschen so, wie Cam sich gerade fühlte – als hätte er einen stundenlangen Marathon hinter sich, gleichzeitig eine Matheklausur geschrieben und wäre am Ende von einem Boxprofi als Ganzkörper-Punching-Bag missbraucht worden.
Wie machte Ella das?! Das war absolut unfair!
George kniete bei Sue und keuchte erleichtert auf, als Sammy sich zu regen begann und die Augen öffnete.
»Hey, kleiner Mann, da bist du ja wieder.« Lächelnd strich Sue ihm über die strubbeligen Haare und trennte die Verbindung zwischen ihnen.
Sammy blinzelte sie verwirrt an und wirkte noch ziemlich benommen. Eingeschüchtert sah er zu den ganzen Leuten, die um ihn herum im Wohnzimmer versammelt waren und streckte seine Ärmchen zu seinem Daddy aus. Mit Tränen in den Augen zog George seinen Sohn an sich und setzte sich mit ihm zu Linda und Lily auf die Couch.
»Danke«, sagte er tief bewegt zu Sue, blickte dann aber vor allem zu Cam und Ella. »Ihr habt unseren Kindern das Leben gerettet.« Er drückte Sammy fest an sich und strich Lily über den Kopf. »Ich weiß nicht, wie wir das jemals wiedergutmachen können.«
»Das müsst ihr gar nicht«, winkte Ella ab. »Ist doch klar, dass wir geholfen haben.«
Phil begann behutsam, Sammy durchzuchecken, der ihn mit großen Augen musterte und sich an seinen Dad kuschelte.
»Was genau ist denn überhaupt passiert?«, fragte Connor, der am Fenster stand und den Garten im Auge behielt.
»Ich hab Lily vom Turnen abgeholt«, erzählte Linda. »Normalerweise fahre ich mit dem Wagen immer direkt in die Garage, besonders dann, wenn es schon dunkel ist. Wir haben ein elektrisches Tor und Bewegungsmelder, die im Inneren der Garage für Licht sorgen. Und von der Garage aus kann man direkt in den Hauswirtschaftsraum gehen. Es ist eigentlich wirklich alles abgesichert.«
»Seit gestern Abend funktioniert jedoch die Elektrik im Garagentor nicht mehr«, fuhr George fort. »Ich weiß nicht, was kaputtgegangen ist, aber das Tor lässt sich nur noch manuell öffnen. Ich hab heute Morgen bei der Firma angerufen, die können allerdings erst am Montag jemanden schicken.« Er schnaubte. »Und natürlich herrscht ausgerechnet jetzt Weltuntergangswetter da draußen und es ist früher dunkel geworden als sonst.«
»Ich hab den Wagen in der Einfahrt geparkt, um das Tor aufzumachen, und den Kinder gesagt, dass sie im Auto bleiben sollen, bis wir in der Garage sind«, sagte Linda. »Aber Sam kann sich mittlerweile alleine aus seinem Kindersitz befreien und da er Regen und Pfützen liebt, ist er aus dem Wagen geklettert und Lily ist ihm hinterher. Das habe ich aber nicht mitbekommen, weil ich mit dem Schloss am Garagentor zu kämpfen hatte.« Sie schluckte hart und zog ihre Tochter fest an sich. »Ich hab nur gehört, wie die beiden plötzlich geschrien haben. Und dann – dann war da dieses riesige schwarze Ding. Wie aus dem Nichts. Es hat sich auf sie gestürzt und sie umschlungen.« Wieder musste sie schlucken und kämpfte sichtlich mit den Tränen. »Es ging alles so schnell. Ich – ich konnte nichts tun.«
George schlang seinen Arm um sie und Linda atmete tief durch, um ihre Fassung zurückzugewinnen. »Dann waren auf einmal die beiden da.« Sie blickte zu Cam und Ella. »Und – ich weiß nicht, was sie gemacht haben, aber sie haben Lily und Sam aus diesem Ding herausgeholt und es vernichtet.«
Jetzt tropften doch Tränen aus ihren Augen, als sie ihrer Tochter einen Kuss aufs Haar gab und ihrem Sohn über den Kopf strich. »George hat recht. Wir verdanken euch das Leben unserer Kinder.« Sie blickte von Cam zu Ella. »Und nein, das ist nicht selbstverständlich. Das ist etwas, das wir euch niemals vergessen werden.«
Ella und Cam lächelten verlegen.
»Was ich nicht verstehe«, sagte George, »ist, wie dieses Biest auf unser Grundstück kommen konnte. Wir haben Eisenzäune und Schutzpflanzen. Das sollte Geister doch eigentlich fernhalten, oder nicht?«
»Was für ein Geist war es denn?«, fragte Sky. »Wenn er kein Geisterleuchten an sich hatte, sondern schwarz war, klingt es nach einem Schatten oder Hocus. Hat das Biest irgendwelche Laute von sich gegeben?«
»Nein. Es war ein Schatten.« Cam setzte sich auf und zog seine Hand aus Gabriels. »Er war ziemlich stark. Aber Ella und ich haben es geschafft, ihn auseinanderzureißen, bevor er den Kids zu viel Energie rauben konnte.«
Ella betrachtete ihn mit einem Stirnrunzeln, das Cam nicht verstand.
»Na, das erklärt es dann. Starke Geister schaffen es manchmal, Schutzbarrieren zu überwinden«, meinte Connor an George und Linda gewandt. »Besonders in Unheiligen Jahren. Außerdem ist nächste Woche Vollmond und wir nähern uns dem Äquinoktium. Ich fürchte, da werden Geisterübergriffe in geschützte Bereiche noch öfter vorkommen. Vor allem dort, wo Kinder wohnen.«
»Habt ihr Taschenlampen mit Magnesiumlicht?«, fragte Gabriel. »Die sind zwar teuer, bieten allerdings dafür auch einen ganz guten Schutz gegen Geisterangriffe.«
»Wir haben eine«, antwortete George. »Aber ich schätze, für die dunkle Jahreszeit rüsten wir da noch auf.«
»Vielleicht sollten wir auch noch mal durchrechnen, ob wir uns nicht doch eine Beleuchtung im Vorgarten leisten können«, meinte Linda mit Blick zu George. »Ich weiß, es ist teuer, aber wenn wir zusammenlegen …«
Georges Eltern