Kapitel 5
Das Glück blieb auf ihrer Seite. Als sie die Roehampton Lane erreichte, erwischte sie knapp noch einen der Busse, die zur Putney High Street fuhren. Dort stieg sie am Bahnhof aus und musste nur ein paar Minuten auf eine Bahn der South Western Railway Line warten, die sie zur Clapham Junction brachte. Hier gab es rund um den Bahnhof eine bunte Mischung aus Geschäften, Restaurants, Bars – und ein Internetcafé.
Jaz bezahlte für eine Stunde und nahm dankbar den Becher Kaffee an, den es gratis dazu gab. Sie verkrümelte sich in eine ruhige Ecke vor einen der Monitore und suchte nach Pfandleihern und Juwelieren, die Silber ankauften. Mit einem Smartphone wäre die Sache einfacher gewesen, doch von solchen Luxusgütern konnten die Internen der Akademie nur träumen. Sie bekamen von der Schule Laptops für den Unterricht, die sie auch privat nutzen durften, das war alles. Wer ein Handy haben wollte, musste es sich mit seinen Verdiensten zusammensparen. Sarah hatte Jessica letztes Jahr ihr altes Smartphone zu einem äußerst fairen Preis abgekauft.
Jaz dagegen hatte nur selten den Wunsch nach einem Handy verspürt. Den Großteil des Tages verbrachte sie in der Akademie bei Unterricht, Training oder Pflichten, und außerhalb der Akademie kannte sie niemandem, deshalb interessierten sie soziale Netzwerke nicht. Und wenn sie an den Wochenenden durch London streifte, war sie froh, dass niemand aus der Akademie sie erreichen konnte. Diese Zeit gehörte ihr ganz alleine.
Natürlich wäre es da manchmal praktisch gewesen, sich Adressen oder Wege auf einem Smartphone anzeigen zu lassen. Aber sie besaß ein London A – Z, das funktionierte auch prima.
Ihre Internetsuche zeigte ihr etliche Pfandleiher in den sozial schwächeren Stadtteilen und zig Juweliere in den Nobelvierteln. Jaz nippte an ihrem Kaffee und überlegte, welche Strategie die bessere war.
Laut Internet verlangten Pfandleiher einen Besitzernachweis und man musste sich ausweisen, wenn man einen Gegenstand beleihen oder verkaufen wollte. Damit sollte vermieden werden, dass Diebesgut zu Geld gemacht werden konnte. Die Frage war allerdings, wie sehr Pfandleiher auf diese Regel achteten. Jaz konnte sich gut vorstellen, dass man in dem ein oder anderen Viertel drüber hinwegsah. Solange ein Kauf nicht zu offensichtlich Ärger bedeuten würde, war den meisten Händlern dort sicher egal, woher die angebotene Ware stammte. Allerdings würden sie sicher versuchen, den Preis entsprechend zu drücken.
Juweliere zahlten vermutlich mehr. Die Reichen und Schönen ließen sich Schutzamulette und Silberschmuck einiges kosten. Doch ob angesehene Juweliere ein Geschäft mit einer Totenbändigerin machen würden, die einen Gegenstand ohne Nachweispapiere anbot, war mehr als fraglich. Um keine ungewollte Aufmerksamkeit zu erregen, waren die Pfandleiher daher wahrscheinlich die bessere Wahl.
Jaz trank noch einen Schluck Kaffee, dann holte sie Block und Stift aus ihrem Rucksack und schrieb sich einige Adressen auf. Sie hätte sich auch eine Liste erstellen und ausdrucken lassen können, doch das hätte extra gekostet und sie musste ihr Geld zusammenhalten.
Kurz vor Ablauf ihrer bezahlten Stunde hatte sie dreiundzwanzig Adressen zusammen, verteilt über halb London. Zum Glück hatte sie ein Monatsticket, das würde das Abklappern leichter machen.
Sie checkte noch schnell den aktuellen Silberpreis, um sich nicht übers Ohr hauen zu lassen, dann löschte sie ihren Browserverlauf und verließ das Café. Schräg gegenüber auf der anderen Straßenseite lag der Clapham Junction Superstore, ein mehrgeschossiges Kaufhaus. Jaz folgte den Hinweisschildern in die Küchenwarenabteilung und tat so, als würde sie sich für die Waagen interessieren. Zum Glück war hier wenig los und die einzige Verkäuferin beriet eine ältere Kundin bei den Mixern.
Unauffällig zog Jaz den kleinen Briefbeschwerer aus ihrer Jackentasche und legte ihn auf eine Digitalwaage.
122,7g.
Rasch ließ Jaz die Walnusshälfte wieder verschwinden und überschlug im Kopf, was der Briefbeschwerer laut Silberpreis wert war, während sie zurück zum Ausgang schlenderte.
Ungefähr fünfhundert Pfund.
Nicht schlecht.
Auch wenn sie die mit Sicherheit niemals bekommen würde.
Nicht ohne Nachweispapiere.
Und nicht als jugendliche Totenbändigerin, bei der jeder sofort davon ausgehen würde, dass der Briefbeschwerer gestohlen war. Was ja nun mal leider auch stimmte.
Jaz verließ den Superstore und wandte sich nach rechts. Drei Querstraßen weiter sollte sich laut Internet ein Pfandleiher befinden. Sie lief an einem Postamt, einem Restaurant und einer Fastfoodbude vorbei und merkte, wie ihr Magen knurrte, weil das Mittagessen für sie ausgefallen war. Doch sie widerstand den verführerischen Düften.
Jetzt gab es erst mal Wichtigeres.
Clapham Pawn Shop stand in roten Buchstaben über den Schaufenstern eines Eckladens, in denen Computer- und Videospiele, ein paar Bücher, verschiedene Elektrogeräte und ein Kinderfahrrad ausgestellt waren. Eine Glocke ertönte, als Jaz die Tür aufschob und eintrat.
Im Inneren des Ladens herrschte ein ähnliches Sammelsurium wie in seinen Schaufenstern. In Regalen reihten sich Computer, Fernseher und andere elektronische Geräte aneinander, in anderen fanden sich Musikinstrumente, Hanteln und Inlineskates. Außerdem gab es jede Menge Schaukästen mit Armbanduhren, Schmuck, Kameras, Handys und tragbaren Spielekonsolen.
Ein Mann um die fünfzig mit dickem Bauch und wenig Haaren erschien in einem Durchgang, der vermutlich zum Lager der Pfandleihe führte. Er lächelte Jaz entgegen, doch die Freundlichkeit gefror recht schnell auf seinem Gesicht, als sein Blick auf die schwarzen Linien an ihrer Schläfe fiel.
Einen Moment lang musterte er sie abschätzend, dann fragte er knapp: »Kann ich dir helfen?«
Es war offensichtlich, dass er ihr schon jetzt misstraute und das war kein guter Einstieg. Trotzdem versuchte Jaz ihr Glück und setzte ihr freundlichstes Lächeln auf, in der Hoffnung, damit völlig harmlos rüberzukommen.
»Kaufen Sie Silber an? Meine Granny hat einen alten Briefbeschwerer, den sie gerne verkaufen würde.«
Argwöhnisch runzelte der Mann die Stirn. »Und warum kommt deine Großmutter dann nicht selbst her?«
»Sie ist nicht mehr so gut zu Fuß und hat mich gebeten, mich ein bisschen für sie umzuhören und ein paar Angebote einzuholen.«
Überzeugend lügen zu können und sich in Windeseile Ausreden einfallen zu lassen, hatte die Akademie ihr beigebracht. Zwar unbeabsichtigt und außerhalb des Lehrplans, aber dafür ziemlich effektiv.
»Dann lass mal sehen.«
Jaz zog die Walnusshälfte aus ihrer Jackentasche und legte sie vor ihn auf den Tresen.
Der Händler nahm sie an sich, wog sie kurz in der Hand und holte dann eine Lupe unter der Theke hervor, um Feingehaltzahl und Stempel besser lesen zu können. Laut der Angaben handelte es sich um 925 Sterlingsilber und der Stempel zeigte das Siegel von Santeglow, einer der drei großen Silbermanufakturen Englands. An der Art und Weise wie der Händler das Stück betrachtete, merkte Jaz, dass er wusste, wie wertvoll es war.
»Hast du einen Besitzernachweis?«
Klar, dass das hatte kommen müssen.
Bedauernd schüttelte Jaz den Kopf. »Leider nicht. Granny hat das Ding vor ein paar Jahren geerbt, als ihre Schwester gestorben ist, und die hatte es wohl schon ewig. Einen Besitzernachweis hat Granny nie bekommen. Was denken Sie denn, was es wert sein könnte?«, schob sie als Frage unschuldig hinterher, um glaubhaft bei ihrer Geschichte zu bleiben, dass sie Angebote einholen wollte.
»Ohne Besitzernachweis ist es für mich leider gar nichts wert.« Der Mann legte den Briefbeschwerer auf den Tresen und zog seine Hand schnell zurück.
Bloß keine Berührung mit einer