Die Totenbändiger - Äquinoktium - Die gesamte erste Staffel. Nadine Erdmann. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Nadine Erdmann
Издательство: Bookwire
Серия: Die Totenbändiger - Die gesamte Staffel
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783958344105
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von Schülern und Lehrern, außerdem Küche und Speisesaal, Büros und die Privaträume des Leiters der Akademie.

      Jaz änderte ihre Sitzposition. Sie saß hier noch keine zehn Minuten, trotzdem taten ihr Rücken und Hintern jetzt schon weh. Vermutlich waren diese blöden Stühle vor gefühlten zweihundert Jahren extra so unbequem gestaltet worden, damit man bei langweiligen Vorträgen bloß nicht einschlief. Sie unterdrückte ein weiteres Gähnen und blickte sehnsüchtig zum verwilderten Wald des Richmond Parks hinüber, der sich jenseits der Grundstücksmauern erstreckte. Sie hätte jetzt einiges dafür gegeben, dort draußen zu sein.

      Joggen zum Wachwerden.

      Das hätte jetzt was.

      Stattdessen hatte man sie mit den anderen Oberstufenschülern der Akademie in den Versammlungssaal bestellt – und Versammlungen bedeuteten entweder nichts Gutes oder elend lange, sterbensöde Vorträge.

      Klassische No-Win-Situation.

      Sie waren nicht viele Schülerinnen und Schüler in der Oberstufe. Sechs, die dieses Schuljahr den Abschluss machen wollten, sieben im nächsten. Nicht jeder schaffte die Anforderungen für die Oberstufe und der ein oder andere brach auch noch innerhalb der beiden Abiturjahre ab. Doch ein höherer Abschluss bedeutete bessere Chancen auf einen Job und Totenbändiger konnten jeden erdenklichen Vorteil bei der Arbeitssuche gebrauchen. Außerdem konnte man die Akademie ohnehin erst mit achtzehn verlassen, wenn man keine Familie hatte – außer man ging nach Newfield.

      Jaz’ Hals juckte. Der steife Kragen ihrer Bluse machte sie wahnsinnig. Wer auch immer in grauer Vorzeit Stehkragenblusen als Teil der Schuluniform festgelegt hatte, war definitiv sadistisch veranlagt gewesen. Und wie jedes Jahr war es nach fast zwei Monaten Sommerferien auch diesmal wieder eine Umstellung, das ätzende Ding tragen zu müssen.

      Ein letztes Jahr lang.

      Und wenn es nach Jaz ging, konnte es gar nicht schnell genug vorübergehen.

      »Oh Mann, ich bin so aufgeregt! Ich kann es immer noch nicht fassen, dass ich es tatsächlich in die Oberstufe geschafft hab!« Hibbelig rutschte Sarah auf ihrem Stuhl hin und her. »Was denkt ihr, warum sie uns hierher bestellt haben? War das im letzten Jahr bei euch genauso? Gab es da auch eine Oberstufenversammlung zu Beginn des neuen Schuljahres?«, fragte sie an Jessica, Jaz und David gewandt, wartete deren Antwort aber gar nicht ab, sondern plapperte sofort weiter. »Ich glaube nicht, oder? Ich kann mich jedenfalls nicht daran erinnern, dass ihr zu so was hinmusstet.«

      Wie so oft redete Sarah ohne Punkt und Komma. In Sozialkunde hatten sie irgendwann mal durchgenommen, dass jeder Mensch im Durchschnitt sechzehntausend Wörter am Tag sprach. Sarah schaffte locker doppelt so viele. Jaz dagegen beschränkte sich gerne aufs Nötigste. Statistisch gesehen ergänzten sie sich also perfekt.

      Jaz warf ihrer Zimmergenossin einen Seitenblick zu. Sarah hatte ihre zartrosa Haare zu zwei langen Zöpfen geflochten, was sie in Verbindung mit der Schuluniform aussehen ließ wie ein zwölfjähriges Chormädchen, nicht wie eine sechszehnjährige Oberstufenschülerin. Doch Sarah lebte ohnehin oft in ihrer eigenen kleinen Welt und träumte vom berühmten Prinzen auf dem weißen Pferd. Sie war ein Jahr jünger als Jaz und genau wie sie eine Interne, die als Baby in der Akademie abgegeben worden war, weil ihre leiblichen Eltern keine Totenbändigerin in ihrer Familie hatten haben wollten. Solange Jaz denken konnte, teilten sie sich schon ein Zimmer, und obwohl sie so verschieden waren wie Tag und Nacht, hatte das immer erstaunlich gut funktioniert. Sie waren zwar keine besten Freundinnen, sondern eher eine Art gut eingespielte Zweckgemeinschaft, aber sie halfen sich gegenseitig und nahmen einander so, wie sie eben waren. Das war mehr, als die meisten anderen hier taten.

      »Nee, letztes Jahr hatten wir keine Versammlung.« Jessica spielte mit einer ihrer schwarzen Korkenzieherlocken. Ihre Haut war so dunkel, dass man die feinen schwarzen Totenbändigerlinien, die sich von ihrer Schläfe hinab zum Ohr schlängelten, kaum erkennen konnte. Jessica war eine der Externen, die jeden Morgen zur Schule herkamen. Ihre Eltern waren beide Totenbändiger und soweit Jaz wusste, lebten sie irgendwo in Putney in der Nähe des Wandsworth Parks. Jessica war zwar deutlich cooler als Sarah, doch auch sie sah in der Uniform aus wie ein Chormädchen.

      Jaz schnaubte innerlich. Himmel, wir sehen alle aus wie verdammte Chorkinder!

      Ihre Schuluniform bestand aus einer weißen Bluse mit immens nervigem, extra steif gebügeltem Stehkragen, einem knielangen schwarzen Faltenrock, grauem Pullunder und einem schwarzen Blazer, auf dessen linker Brustseite in Weiß das Zeichen der Akademie aufgestickt war: eine Triskele, deren drei Schlaufen in keltischen Knoten endeten. Diese Dreieinigkeit stand in ihrer Gemeinschaft für Körper, Seele und Geist, mit denen Totenbändiger ihre Fähigkeiten beherrschten und sich von den unbegabten Menschen unterschieden, die keine Chance gegen Geister und Wiedergänger hatten.

      »Ich schätze, diese Versammlung hat etwas mit unseren Besuchern zu tun«, meinte David, ein weiteres internes Chorkind. Die Uniform der Jungen bestand aus weißen Hemden, schwarzen Tuchhosen, grauen Pullundern und schwarzen Sakkos, auf denen ebenfalls das Schulwappen aufgestickt war.

      »Welche Besucher?«, fragte Jessica überrascht.

      »Die beiden aus Newfield.«

      David nahm seine Brille ab und polierte die Gläser mit einem Zipfel seines Pullunders. Wie immer hatte er seinen violett schimmernden Haaren einen perfekten Seitenscheitel verpasst und sie mit jeder Menge Gel fixiert, damit bloß keine Strähne irgendetwas tat, was sie nicht tun sollte.

      »Sie sind gestern sehr spät hier angekommen. Master Carlton hat sie in seinen Privaträumen zum Abendessen empfangen und heute Morgen haben sie dort gemeinsam gefrühstückt. Ruben und ich hatten Servierdienst. Die zwei sind sehr nett. Sie heißen Anya und Drew. Anya ist früher hier in der Akademie zur Schule gegangen.«

      »Oh wie cool! Besuch aus Newfield!« Wie immer war Sarah total schnell begeistert, egal von was. »Da muss es sooo toll sein. Ich hatte ja echt überlegt, ob ich Master Carltons Angebot annehmen und dorthin wechseln soll, aber Jaz meinte, ich soll erst mal die Oberstufe versuchen. Immerhin hab ich die Qualifikation dafür ja geschafft.«

      Mit Ach und Krach. Zig Stunden hatte Jaz mit ihr gebüffelt, damit Sarah es hinbekam. Und als sie die Prüfungen dann tatsächlich bestanden hatte und plötzlich meinte, sie würde vielleicht doch gar nicht in die Oberstufe wollen, hatte Jaz ihr ordentlich ins Gewissen geredet – und sich damit bei Master Carlton nicht sonderlich beliebt gemacht. Aber das war Jaz egal. Auf einmal mehr oder weniger anecken bei ihrem Schulleiter kam es ohnehin nicht mehr an.

      »Weißt du schon, dass letzte Woche fünf Kids aus Newfield zu uns in die Akademie gekommen sind?«, fragte Sarah an Jessica gewandt. »Sie sollen hier eine gute Schulbildung bekommen.«

      »Macht Sinn. Auf der Farm haben sie dafür nicht die Möglichkeiten. Würdest du da echt hinwollen? Weg aus London in die Pampa von Yorkshire?« Jessica rümpfte die Nase und spielte weiter mit einer ihrer Locken.

      Sarah nickte eifrig. »Sicher. Das ist doch total idyllisch! Und Newfield ist ja schon viel mehr als bloß eine Farm. Master Carlton hat uns erzählt, dass sie dort ständig bauen und alles erweitern. Es soll zu einem richtigen kleinen Dorf werden, in dem nur Totenbändiger leben. Stell dir doch mal vor, wie cool das wäre! Keine Unbegabten, die uns blöd angucken. Nicht mehr ständig angefeindet werden, wenn wir einen Fuß vor die Tür setzen. Ein eigenes kleines Dorf, nur für uns alleine. Das ist doch toll!«

      »Ich finde die Idee auch sehr reizvoll.« David setzte sich die Brille wieder auf und schob sie seine Nase hoch. »Ich werde auf jeden Fall nach Newfield gehen. Natürlich erst nach dem Abschluss hier auf der Akademie. Ich könnte auf der Farm leben und ein Fernstudium machen. Master Carlton findet das eine gute Idee. Sie haben bisher erst eine Ärztin, und wenn Newfield in den nächsten Jahren weiter wächst, brauchen sie mehr Fachleute, um die medizinische Versorgung zu gewährleisten. Ich würde gerne dabei helfen, dort unsere eigene Gesellschaft aufzubauen.«

      »Ich auch!«, strahlte Sarah. »Das klingt sooo cool!«

      Die Tür zum Südflügel ging auf und Cornelius Carlton erschien.