«Ach ja, Herr. Eine Gespenstergeschichte.»
«Wo waren wir hier stehen geblieben?» fragte Stephan und öffnete ein anderes Buch.
«Weep no more», sagte Comyn.
«Dann mal los, Talbot.»
«Und die Geschichte, Herr?»
«Später», sagte Stephan. «Fang an, Talbot.»
Ein dunkler Knabe öffnete ein Buch und lehnte es flink unter den Deckel seines Tornisters. Ruckweise sagte er Verse auf und blickte dabei heimlich auf den Text:
Weep no more, woful shepherd, weep no more
For Lycidas, your sorrow, is not dead,
Sunk though he be beneath the watery floor. . . .
Es muss also eine Bewegung sein, eine Wirklichkeit des Möglichen als möglich. Der Satz des Aristoteles formulierte sich in den heruntergeleierten Versen und schwebte hinaus in die eifrige Stille der Bibliothek Sainte Geneviève, wo er, geschützt gegen alle Sünde von Paris, Abend für Abend gelesen hatte. Neben ihm studierte eifrig ein zarter Siamese in einem Handbuch der Strategie. Genährte und sich nährende Hirne um mich: unter Glühlampen, aufgespiesst, mit schwach schlagenden Fühlern: und in meines Geistes Dunkelheit ein Faultier der Hölle, widerspenstig, lichtscheu, seine drachenschuppigen Falten vorwärtsschiebend. Gedanke ist der Gedanke des Gedankens. Ruhige Helle. Die Seele ist in einer Art alles was ist: die Seele ist Form der Formen. Plötzliche Stille, weit, weissglühend: Form der Formen.
Talbot wiederholte:
Through the dear might of Him that walked the waves,
Through the dear might. . . .
«Blättere nur um», sagte Stephan ganz ruhig. «Ich sehe nichts.» «Wieso, Herr?» fragte Talbot einfach und beugte sich nach vorn. Seine Hand schlug die Seite um. Er lehnte sich zurück und fuhr fort, als wäre es ihm gerade wieder eingefallen. Of Him that walked the waves. Auch über diesen zaghaften Herzen liegt sein Schatten und auf des Spötters Herz und Lippen und auf meinen. Er liegt auf ihren eifrigen Gesichtern, die ihm den Zinsgroschen anboten. Dem Kaiser, was des Kaisers ist, aber Gott, was Gottes ist. Ein langer Blick aus dunklen Augen, ein rätselhafter Spruch, der auf der Kirche Webstuhl gewoben und immer wieder gewoben wird. Ach!
Rate mich, rate mich, randi räh.
Mein Vater gab mir Samen,
Dass ich ihn sä’.
Talbot flitzte das geschlossene Buch in den Tornister.
«Hab ich alles gehört?» fragte Stephan.
«Ja, Herr. Hockey um zehn, Herr.»
«Halbfreier Tag, Herr. Donnerstag.»
«Wer kann ein Rätsel raten?» fragte Stephan.
Sie packten ihre Bücher weg. Bleistifte klapperten, Seiten raschelten. Sie drängten sich zusammen, riemten und schnallten die Tornister zu, wobei alle lustig schnatterten.
«Ein Rätsel, Herr. Fragen Sie mich, Herr.»
«Nein, mich, Herr.»
«Ein schweres.»
«Dies ist das Rätsel», sagte Stephan:
Der Hahn krähte,
Der Himmel war blau:
Die Glocken im Himmel
Schlugen elf.
Es ist Zeit für diese arme Seele
In den Himmel zu gehen.
«Was ist das?»
«Ja, was?»
«Nochmal, Herr, wir haben’s nicht ordentlich verstanden.» Ihre Augen wurden grösser, als er die Verse wiederholte. Nach kurzem Schweigen sagte Cochrane:
«Was ist es denn, Herr? Wir geben es auf.»
Stephan, dem es im Halse juckte, antwortete:
«Der Fuchs, der seine Grossmutter unter einem Ilexstrauch begräbt.»
Er stand auf, lachte nervös; Schrecken echoten ihre Schreie.
Ein Stock schlug an die Türe, und im Korridor rief eine Stimme: «Hockey.»
Sie stoben auseinander, schoben sich seitwärts aus ihren Bänken, sprangen darüber. Schnell waren sie draussen, und aus der Rumpelkammer klang Geklapper von Stöcken und Lärm ihrer Stiefel und Zungen.
Sargent, der allein zurückgeblieben war, kam langsam heran, zeigte ein offenes Heft. Sein wirres Haar und hagerer Nacken verrieten Unbereitwilligkeit, und durch die nebelige Brille sahen flehend schwache Augen. Auf seiner kalten, blutleeren Wange war ein leichter Tintenfleck, dattelförmig, frisch und feucht wie einer Schnecke Spur.
Er zeigte sein Heft vor. Auf der ersten Linie stand das Wort: Aufgaben. Darunter standen verrutschte Ziffern und unten blindbuchstabig eine krumme Unterschrift und ein Klecks. Cyril Sargent: sein Name und Siegel.
«Herr Deasy hat mir gesagt, ich sollte sie alle noch einmal abschreiben», sagte er, «und sie Ihnen zeigen, Herr.»
Stephan berührte den Rand des Buches. Nutzlosigkeit. «Weisst du denn jetzt, wie sie gerechnet werden?» fragte er. «Nummer elf bis fünfzehn», antwortete Sargent. «Herr Deasy sagte, ich sollte sie von der Tafel abschreiben.» «Kannst du sie auch allein lösen?» fragte Stephan.
«Nein, Herr.»
Hässlich und nutzlos: hagerer Hals und wirres Haar und ein Tintenfleck, einer Schnecke Spur. Und doch hatte eine ihn geliebt, ihn in ihrem Herzen getragen und ihren Armen. Wäre sie nicht gewesen, die wilde Jagd der Welt hätte ihn unter die Füsse getreten, eine zerquetschte, knochenlose Schnecke. Sie hatte sein wässeriges, schwaches Blut geliebt, das stammte aus ihrem eigenen. War das denn wirklich? Das einzig Wahre im Leben? Auf den daliegenden Leib seiner Mutter trat der feurige Columbanus in heiligem Eifer. Sie war nicht mehr: das zitternde Skelett eines Zweiges, der im Feuer verbrannte, ein Duft nach Rosenholz und feuchter Asche. Sie hatte ihn davor bewahrt, dass er nicht unter die Füsse getreten wurde, und war gegangen, nachdem sie kaum gewesen. Eine arme Seele, eingegangen in den Himmel: und auf einer Heide, unter blinkenden Sternen ein Fuchs, roten Raubdunst im Fell, mit grausamen, hellen Augen wühlte er in der Erde, lauschte, wühlte die Erde auf, lauschte, wühlte und wühlte.
Stephan setzte sich neben ihn, löste die Aufgabe. Er beweist mit Hilfe der Algebra, dass Shakespeares Geist Hamlets Grossvater ist. Sargent schielte von der Seite durch seine schiefe Brille. Hockeysticks klapperten in der Rumpelkammer: der hohlklingende Schlag vor den Ball und Rufe vom Spielplatz.
Über die Seite bewegten sich in ernstem Mohrentanz in der Verkleidung ihrer Ziffern die Symbole, trugen seltsame Kappen aus Quadraten und Kuben. Geben die Hände, gehen hinüber, verbeugen sich vor dem Partner: so: Kobolde der Phantasie der Mauren. Auch von der Welt verschwunden, Averroes und Moses Maimonides, dunkle Männer in Aussehen und Bewegung, die in ihren narrenden Spiegeln die dunkle Seele der Welt aufblitzen liessen, eine Dunkelheit leuchtend in Helle, die Helle nicht verstehen konnte.
«Verstehst du es jetzt? Kannst du die zweite selbst lösen?» «Ja, Herr.»
In langen, zittrigen Strichen schrieb Sargent die Data ab. Immer auf ein Wort der Hilfe wartend, bewegte seine Hand treu die unstetigen Symbole, wobei leichte Scham hinter seiner matten Haut flackerte. Amor matris: Nominativ und objektiver Genetiv. Mit ihrem schwachen Blut und ihrer sauren Milch hatte sie ihn genährt und vor den Augen anderer seine Windeln verborgen. Wie er war auch ich, dieselben hängenden Schultern, anmutlos. Meine Kindheit beugt sich neben mir. Zu fern, als dass ich sie mit leichter Hand nur einmal noch berühren könnte. Meine ist fern und seine geheimnisvoll wie unsere Augen. Geheimnisse, still, steinig, sitzen in den dunkeln Palästen unserer beiden Herzen: Geheimnisse, müde ihrer Tyrannei: Tyrannen, die entthront werden wollen. Die Aufgabe war fertig.
«Es ist ja so einfach»,