„... Dass ihm überhaupt alles andere im Leben nur noch so nebenbei ist? ... Dass er nicht nur fortwährend von Ihnen redet — das hat er längst aufgegeben, wie er merkte, dass ich Verdacht schöpfte — aber ich hab’s ihm doch angesehen — nach jedem Kolleg ... ob Sie dagesessen sind oder gefehlt haben — das war seine Stimmung für den Rest der Woche — und für den Anfang der nächsten die Erwartung, ob Sie diesmal da sein würden! O — ich kenn’ ihn doch. Und wenn Sie bei uns eingeladen waren — da haben zwei gezittert — nicht nur er — schon tagelang vorher — sondern ich für ihn ... weiss Gott: ich hab’ etwas leisten müssen an Selbstbeherrschung in dieser Zeit. Ich wollt’ es ja auch. Ich bin zu stolz für einen Skandal. Aber nun muss es ein Ende nehmen — ich halt’ es nicht mehr aus und er auch nicht.“
Sie brach ab. Die Tränen schienen ihr nahe. Aber sie beherrschte sich. Und Hedwig sagte, blass geworden und fest: „Und ich hab’ nichts davon gewusst, gnädige Frau!“
„Und dass er plötzlich alle seine Bücher da unten in dem armseligen Lädchen hat einbinden lassen, wo sie ihm nur Dummheiten machen — und alle paar Tage gekommen ist, um nachzusehen — um dabei in Ihrer Nähe zu sein und Ihnen womöglich zu begegnen — ist Ihnen auch das nicht aufgefallen?“
Hedwig zuckte zusammen. Das war richtig. Erst vorhin war er dagestanden und hatte zweimal wie unabsichtlich nach ihrem Fenster hinaufgeschaut! Jetzt begriff sie das. Und zugleich setzte Frau von Helmstorff leise, zwischen den Lippen, hinzu: „Und ich habe noch einen weiteren Beweis, der gegen Ihre Worte spricht, Fräulein Solitander. Woher hat mein Mann Ihre Photographie?“
„Er hat sie nicht!“ Hedwigs Wangen färbten sich dunkel und zugleich wurde auch Frau von Helmstorff rot. „Doch,“ sagte sie gepresst. „Er hat sie! Ich hab’ mich so weit entwürdigt ... ich bin heimlich über seinen Schreibtisch gegangen! Da liegt sie in einer Schublade, die sonst verschlossen ist! Ich hab’ sie selbst in der Hand gehalten und wieder auf ihren Platz getan!“
„Und ich weiss nun auch, wie sie dahingekommen ist!“ sagte Hedwig jetzt ganz kalt und verächtlich. „Bitte — gehen Sie von hier aus direkt zu dem Universitätsphotographen Schneider, ehe er durch mich oder sonst irgendwie etwas von unserem Gespräch erfahren kann. Er wird Ihnen sofort bestätigen, was er mir vor ein paar Monaten bei einer zufälligen Begegnung auf der Strasse erzählt hat: Es sei ihm arg — aber es hätte irgend jemand mein Bild, das bei ihm im Wartezimmer aufgelegen habe, mitgehen heissen. Wer — das wisse er nicht — und nachforschen könne er doch auch nicht gut. Also nun ist’s ja klar. Aber gegen Diebstahl ist man eben wehrlos. Ich habe Ihrem Herrn Gemahl keinen Anlass und kein Recht zu alledem gegeben. Ich war bis zu dem Augenblick, wo Sie mir das jetzt gesagt haben, so harmlos wie ein neugeborenes Kind ...“
Frau von Helmstorff hatte die Augen niedergeschlagen, so, als ob sie sich für ihren Mann schämte. Und in dieser Haltung sprach sie halblaut: Wenn dem so ist, Fräulein Solitander — dann habe ich Ihnen manches abzubitten, was ich in dieser Zeit von Ihnen gedacht habe!“
„Ja — ich glaube — das haben Sie, gnädige Frau! Ich kann nur wiederholen: ich war vollkommen ahnungslos. Es ist mir weiss Gott auch furchtbar genug ...“
Nun hob die andere den Blick wieder. Angst lag darin. Und doch wieder zögerndes Vertrauen. Die Gemeinsamkeit zwischen zwei Frauen. „Aber was soll nun weiter werden?“ frug sie. „Es kann doch nicht so fortgehen — das halt’ ich nicht aus!“
„Meine Aufgabe ist ganz klar, gnädige Frau!“ sagte Hedwig so ruhig sie konnte. Die Erregung zitterte in ihr nach. „Irgend einen Anlass, mit Ihrem Herrn Gemahl amtlich, in seiner Lehreigenschaft, zusammenzutreffen, hätte ich seit gestern so wie so nicht mehr gehabt und wahrhaftig auch nie gesucht. Es bleibt mir also nur übrig, meinen Verkehr in Ihrem Hause einzustellen. Und das ist ja selbstverständlich, dass ich Ihre Schwelle nie wieder betrete ...“
Sie überlegte einen Augenblick und setzte dann hinzu: „Einmal hätte ich ja übermorgen noch zu ihm auf eine Minute in die Sprechstunde gehen müssen, um meinen Dank abzustatten. Sie wissen, das ist Brauch nach jedem Doktorexamen oder eigentlich Vorschrift. Zu den anderen Professoren geh’ ich morgen schon. Ich muss sehen, wie ich mein Fernbleiben einrichte, ohne dass das zu sehr auffällt, denn Ihr Herr Vater zum Beispiel wird mich gleich danach fragen ...“
Ihre Besucherin schüttelte den Kopf. „Ich wünsche nicht, dass irgend etwas auffällt!“ sagte sie beinahe hart und durch diesen Ton klang die Frau von Welt, die um jeden Preis kein Aufsehen nach aussen haben wollte. „Sonst hätte ich diesen schweren Gang zu Ihnen wahrhaftig nicht erst angetreten. Also ... ich bitte Sie: kommen Sie übermorgen zu meinem Mann in sein Sprechzimmer! Erledigen Sie diese geschäftliche Formalität, wie wenn nichts wäre. Darauf kommt es wahrhaftig nicht mehr an. Und dann ...“
Sie brach ab. Man sah, sie unterdrückte etwas, was die andere vielleicht hätte verletzen können. Aber Hedwig begriff sie vollkommen und sagte einfach: „Aber natürlich, gnädige Frau, das ist ja ganz selbstverständlich, dass damit unsere Beziehungen für immer erledigt sind.“
Dabei kam ganz jählings Unmut und Erbitterung über sie. „Mehr kann ich beim besten Willen nicht tun. Ich selbst bin ja eigentlich bei der ganzen Geschichte nicht beteiligt!“
„Wieso — Fräulein Solitander?“
„Ich nicht — sondern nur mein Gesicht hier mitsamt seinen Sommersprossen — und meine roten Haare! Ach — was ich diese roten Haare manchmal hasse! Aber ich kann sie mir doch nicht abschneiden. Sie kämen ja doch wieder nach. Ich meine: nur mein Äusseres ist bei dem allen in Frage gekommen — in meine Seele hat er nie einen Einblick getan! Wir haben nie etwas Vernünftiges miteinander gesprochen — ausser etwa gestern beim Examen — nie — ich erinnere mich genau! Es ist alles rein körperlich! Darin liegt das Entwürdigende auch für mich ...“
Die zwei jungen Frauen schauten sich ernst in die Augen und beider Augen waren feucht. Und es war plötzlich zwischen ihnen etwas wie dasselbe Schicksal und Leid. Und dann fasste Frau von Helmstorff mit einem raschen Entschluss ihre Hand und drückte sie. „Ich danke Ihnen, Fräulein Solitander!“ sagte sie, während sie sich zum Gehen wandte. „Sie waren so, wie ich gleich von Anfang hätte hoffen sollen! Verzeihen Sie mir, wenn ich Ihnen unrecht tat. Aber ich bin unglücklicher, als es jemand ausser uns zu wissen braucht!“
Sie war auf den Flur hinausgetreten. Da draussen hantierte die Baas. In der Ferne klang das Lachen von Suse Trautvetter — hier waren schon überall Menschen — hier begann das Reich der Verstellung und die beiden fügten sich darein und bemühten sich sogar, beim Abschied auf der Schwelle zu lächeln. Aber es gelang ihnen nicht und ihre Stimmen schwankten, während Frau von Helmstorff mit einem nochmaligen Händedruck sagte: „Adieu, Fräulein Solitander!“
Und ebenso, als Hedwig erwiderte: „Adieu, gnädige Frau! Vielen Dank für Ihren Besuch!“
Dann kehrte sie in die Bibliothek zurück — da setzte sie sich hin — unter dem Bild des alten grimmigen Predigers Markus Solitander, der schützend auf sein Enkelkind herabschaute — und ordnete ihre Gedanken. Das ging nicht so schnell. Das alles war so plötzlich gekommen. Sie war ganz überrumpelt. Und wenn sie es sich auch jetzt allmählich klar machte — ein Staunen blieb — eine Verwunderung über sich selbst, dass sie so blind hatte sein können, das gar nicht zu merken! Aber andere hatten es ja auch nicht gesehen — niemand! Das war klar. Denn sonst hätte es längst an Sticheleien und Anspielungen und anonymen Briefen in der Kleinstadt nicht gefehlt. Und das war immerhin ein Trost, dass die ganze Sache sich im geheimen abgespielt hatte und ebenso in nichts verschwand.
Sie stand wieder auf. Es war eine quälende Unruhe in ihr. Drüben an der Wand hing ein grosser alter Spiegel. Vor den stellte sie sich hin und betrachtete sich genau, das feine weisse, schmale Mädchengesicht mit den grossen, grauen Augen, die so kühl und klug wie immer blickten, als ginge sie diese Sache gar nichts an — die schlanke Gestalt — und über alles ausgegossen ein Glanz von oben, der leuchtende Feuerschimmer ihres rotgoldenen, in schweren Flechten die Stirne krönenden Haares. Und nachdenklich, bitter, traurig sagte sie zu sich: Also das bist wieder einmal du — dies Haut und Haar und körperliche