Der du von dem Himmel bist. Rudolf Stratz. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Rudolf Stratz
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9788711507100
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Mut ...“

      „Und wie viele werden dich heute beneiden!“

      „Nun, mögen sie! Wenn sie glauben, dass in so einem überstandenen Examen das Glück liegt ... und überhaupt: was heisst schliesslich Glück? ...“

      Der Blick des Vaters, der auf ihr ruhte, war wärmer als sonst. Es war etwas von Wehmut darin — hatte sie doch erreicht, was ihm, dem Privatgelehrten, nie vergönnt gewesen — und von nachträglicher Rührung. Ihr Dasein war nicht so verpfuscht wie das seine.

      Er legte ihr die Hand auf den Kopf, von dessen überreicher, rotgoldener Haarlast es immer nicht nur wie Sonnenglanz, sondern auch wie Wärme über sie und ihre Umgebung ausströmte, und sagte bedächtig: „Ja ... Glück — mein Kind ... man muss eben danach suchen — das heisst leben ... ich bin nun sehr alt und war nie in meinem Leben glücklich ... oder immer nur ganz kurze Zeit und hab’ dann immer wieder lange dafür büssen müssen — für das schwarz-rotgoldene Band, das ich als junger Bursche getragen hab’ und dafür, dass mir damals die Tränen in die Augen gekommen sind, wenn ich nur an Deutschlands Einheit gedacht hab’ — na — dafür hab’ ich ja dann in Bruchsal Wolle gesponnen. Und drüben überm Ozean, wie ich als freier Mann dagestanden bin und die Arme ausgereckt hab’ — da ist mit der Freiheit die Not und die Sorge gekommen — und wie ich schliesslich als Dorfschulmeister in Pennsylvanien wenigstens das tägliche Brot hatte — da kam das Heimweh und hat mir keine Ruhe gelassen. Und daheim wieder im Vaterland, nach zwei Jahrzehnten — ein Mann von über vierzig — da dacht’ ich: nun hab’ ich das Glück, da hatt’ ich deine Mutter ... nun du weisst ja — wir gehen ja oft genug zusammen hinaus nach der Rohrbacher Strasse — draussen auf dem Friedhof liegt sie — sieben Jahre hab’ ich sie gehabt — nicht länger — der Rest ist Schweigen — sagt, glaub’ ich, Hamlet. — Sieh’ — so läuft das Leben von der Wiege bis zur Bahre. — Alles, was ich je angefangen hab’, ist mir unter den Händen verbröckelt und zu Staub geworden — so geht’s jetzt sogar noch mit meinen Käfersammlungen — und die sind doch meine letzte Freude. Aber doch bereu’ ich mein Leben nicht. Ich hab’ immer redlich nach meinem Glück gestrebt und mehr gibt’s vielleicht überhaupt nicht. Denn wenn wir das Glück haben, dann wissen wir’s gewöhnlich nicht — und wenn wir’s wissen, ist’s meist zu spät — ... so muss man das anschauen, Hedwig — mein Kind — dann trägt sich alles viel leichter ...“

      Gryphius Solitander hatte nachdrücklicher als gewöhnlich geredet, wo er in allem, was nicht seine geliebten Kerfe betraf, eine rasche, zerstreute, halb geistesabwesende Art an sich hatte. Diesmal war es ihm ernst, einmal der Tochter den Freund und Vater zu zeigen. Es war Güte in seinen Worten. Aber Hedwig hörte nur die Mahnung heraus, sich zu bescheiden — zu entsagen — das Glück in Vergangenheit oder Zukunft zu suchen. So sprach die Weisheit des Alters. Die Jugend in ihr antwortete dagegen: Nein! — Alles oder nichts! Aber sie schwieg. Sie nickte ihrem Vater nur zu. Die Tränen kamen ihr in die Augen und sie ging rasch aus dem Zimmer.

      Und Gryphius Solitander schaute ihr trübselig nach — in ferne Zeiten verloren — von jenem Tag des Jahres Neunundvierzig ab, wo er bei Waghäusel hoch aufgerichtet, den Burschenhut auf dem Kopf, mit seinen langen Beinen unerschrocken in den Kugelregen hinein ausgreifend, das schwarzrotgoldene Reichsbanner den Freischärlern voraus gegen die Preussen getragen, deren schwarzweisse Fahne drüben über den Pickelhauben wehte, bis zu jenem stillen Sommerabend, an dem er draussen im Friedhof am Walde von dem frischen Grab seiner Frau Abschied genommen. Dazwischen lag sein Leben. Hinterher kam eigentlich nichts mehr. Er seufzte tief und hörte noch, wie Hedwig draussen sagte: „Baas — wenn die Frau von Helmstorff kommt — ich bin in der Bibliothek!“ Dann nahm er Schlapphut und Mantel und trat seinen gewohnten einsamen Spazierlauf nach dem Königstuhl an.

      Die „Bibliothek“, die Hedwig betrat, wurde seit altersgrauer Zeit ein Eckraum des Solitanderschen Hauses genannt — ursprünglich wohl das Gemach, wo die gelehrten und geistlichen Herren der Familie über ihren schweinsledernen weltlichen und kirchlichen Folianten sannen, die jetzt noch die alten Nussbaumschränke mit ihrer Mystik des siebzehnten und achtzehnten Jahrhunderts füllten, und in hartem Kampf mit dem Teufel ihre Predigten aufschrieben. Einer von ihnen schaute jetzt noch von der Wand herunter. Sein lebensgrosses Ölbildnis beherrschte den ganzen Raum — ein tonnenstarker, zornmütiger Herr, den Knebelbart halb in einer mächtigen weissen Halskrause vergraben, mit einer dicken roten Nase und flammenden Augen. Das war der hochwürdige Dominus Markus Solitander — um 1720 Prediger des reformierten Glaubens — ein Mann, dessen Wort wie das grimme Brüllen eines Stiers von der Kanzel scholl und der nachher ebenso beim Wein und derben Spässen wacker aushielt. Dem war es nicht darauf angekommen, dem Kurfürsten Karl Philipp selbst die Wahrheit zu sagen. Wie hatte er gewettert „wider den bäpstlichen Hauffen“, als man die Scheidemauer der Heiliggeistkirche niederriss und die Reformierten aus dem Schiff vertrieb — und wie siegesbewusst war er ein Jahr darauf wieder mit seinen Brüdern im Geiste in das Gotteshaus eingezogen, wo sie eine neue noch dickere Wand von den Römlingen im Chor trennte ... Und diese Wand stand noch jetzt ...

      Hedwig warf sonst gewöhnlich, wenn sie in das Zimmer kam, einen wohlwollenden Blick zu dem alten Vorfahren und Bibelkämpen hinauf, für dessen vollblütige Menschlichkeit sie immer etwas übrig gehabt hatte. Aber heute war ihr nicht darum zu tun. Sie stellte sich an das eine Gassenfenster und wartete, wann Frau von Helmstorff käme.

      Mit leeren Augen schaute sie da- und dorthin, zuletzt nach dem Hof hinaus, wo der alte dürre Weihnachtsbaum frei aufgehängt im Wind sich drehte, mit Speckschwarten behängt, an denen zierliche Blaumeisen und Schwarzblättchen, aber nicht das plumpere Räubervolk der Spatzen im Fluge haften und sich gütlich tun konnten. Und kraus und wirr, wie das Schwirren dieser Wintervögel, war auch das Spiel ihrer Gedanken ...

      Da klang draussen die Glocke. Sie hörte eine Damenstimme. Das war Frau von Helmstorff. Und gleich darauf erschien diese, von der Baas, die sich wieder zurückzog, hereingeleitet, im Zimmer, eine sehr elegante, schlanke Blondine — eigentlich hübsch, mit klaren Augen und angenehmen offenen Zügen, kaum älter als Hedwig — gegen Mitte der dreissig. Eher hätte man ihr noch weniger Jahre gegeben. Es war noch etwas Jugendliches an ihr. Man mochte kaum glauben, dass sie schon eine halberwachsene Tochter besass — einen stämmigen rotwangigen Backfisch auf dem Mädchengymnasium in Karlsruhe — und einen Sohn, der bald in die Untersekunda des Heidelberger Gymnasiums aufrücken sollte.

      Damals als sie mit kaum siebzehn Jahren in einer kleinen norddeutschen Universität den Privatdozenten Doktor Ludwig Helmstorff geheiratet, hatten sie zwar schon Geld in Menge gehabt, dank seinem Vater, dem Begründer und Hauptaktionär der jetzt peinlich als Familiengeheimnis verschwiegenen bayrischen Bierbrauerei, aber sonst im Anfang zurückgezogen gelebt. Das änderte sich dann rasch mit den steigenden wissenschaftlichen und gesellschaftlichen und politischen Erfolgen ihres Mannes und sie, die Professorentochter aus einer Kleinstadt, war an seiner Seite ganz in die Rolle einer Weltdame hineingewachsen, deren völlige Sicherheit und Formgewandtheit in dem unruhigen Getriebe des stets von Besuchern und Gästen wimmelnden Helmstorffschen Hauses auf Hedwig, gerade weil sie sich dort immer gedrückt und unbehaglich fühlte, einen tiefen Eindruck gemacht hatte. Umsomehr erstaunte es sie heute, dass Frau von Helmstorff offensichtlich unruhig war und das nicht ganz zu beherrschen vermochte. Sie schaute auch blasser aus als sonst, wo ihre gesunden Farben den Eindruck ihrer Jugendlichkeit noch erhöhten.

      Hedwig gab ihr die Hand und bat sie, Platz zu nehmen. Die beiden Damen setzten sich und lächelten sich einen Augenblick an — etwas unschlüssig — auf Frau von Helmstorffs Seite beinahe befangen, wie es der anderen wieder schien. Sie war doch neugierig, was ihre Besucherin eigentlich hergeführt. Da hub jene an, rasch und liebenswürdig — nur mit einem kaum merklichen Schwanken in der Stimme: „Also vor allem meine herzlichsten Glückwünsche, Fräulein Doktor! Das ahnte ich ja natürlich nicht — gestern, wie ich hier war — dass Sie da gerade mitten in der Entscheidung standen ... es war zu ungeschickt von mir ...“

      „Aber ich bitte Sie, gnädige Frau!“ Hedwig lachte. „Sie hatten ja sogar noch Recht! Eigentlich war ja schon vorgestern der grosse Tag!“

      „Ja gewiss ... ich hätte nur der Sicherheit halber lieber meinen Mann vorher noch einmal fragen sollen. Ich hatte nur eben so viel im Kopf ...“