Sie verlief nicht ohne Widerstand und wiederholte Kundgebungen aufrührerischer Gesinnung. Das erregte Aufsehen schmeichelte dem Betrunkenen, und eine bis dahin verheimlichte völlige Abneigung gegen das Mitgeschöpf zeigte sich entfesselt. Ein leidenschaftlicher Kampf um Geltung begann. Ein höheres Gefühl von seinem Ich setzte sich mit einem unheimlichen Gefühl auseinander, als wäre er nicht fest in seiner Haut. Auch die Welt war nicht fest; sie war ein unsicherer Hauch, der sich immerzu deformierte und die Gestalt wechselte. Häuser standen schief aus dem Raum gebrochen; lächerliche, wimmelnde, doch geschwisterliche Tröpfe waren dazwischen die Menschen. Ich bin berufen, bei ihnen Ordnung zu machen, fühlte der ungewöhnlich Betrunkene. Der ganze Schauplatz war von etwas Flimmerndem ausgefüllt, irgendein Stück Weg des Geschehens kam klar auf ihn zu, aber dann drehten sich wieder die Wände. Die Augenachsen standen wie Stiele aus dem Kopf, während die Fußsohlen die Erde festhielten. Ein wundersames Strömen aus dem Mund hatte begonnen; Worte kamen aus dem Inneren herauf, von denen nicht zu begreifen war, wie sie vorher hineingekommen waren, möglicherweise waren es Schimpfworte. Das ließ sich nicht so genau unterscheiden. Außen und Innen stürzten ineinander. Der Zorn war kein innerer Zorn, sondern bloß das bis zum Rasen erregte leibliche Gehäuse des Zorns, und das Gesicht eines Schutzmanns näherte sich ganz langsam einer geballten Faust, bis es blutete.
Aber auch der Schutzmann hatte sich inzwischen verdreifacht; mit den hinzueilenden Sicherheitsbeamten waren Menschen zusammengelaufen, der Betrunkene hatte sich zur Erde geworfen und wollte sich nicht festnehmen lassen. Da beging Ulrich eine Unvorsichtigkeit. Er hatte aus dem Auflauf das Wort «Majestätsbeleidigung» vernommen und bemerkte nun, daß dieser Mensch in seinem Zustand nicht imstande sei, eine Beleidigung zu begehen, und daß man ihn schlafen schicken solle. Er dachte sich nicht viel dabei, aber er kam an die Unrechten. Der Mann schrie nun, daß ihn sowohl Ulrich wie die Majestät. ..!- und ein Schutzmann, der die Schuld an diesem Rückfall offenbar der Einmischung zuschrieb, forderte Ulrich barsch auf, sich weiterzuscheren. Nun war es dieser aber ungewohnt, den Staat anders zu betrachten als ein Hotel, in dem man Anspruch auf höfliche Bedienung hat, und verbat sich den Ton, in dem man zu ihm sprach, was unerwarteterweise die Schutzmannschaft zu der Einsicht brachte, daß ein Betrunkener für die Anwesenheit von drei Schutzleuten nicht genüge, so daß sie Ulrich gleich auch mitnahmen.
Die Hand eines Uniformierten umspannte seinen Arm. Sein Arm war beiweitem stärker als diese beleidigende Umklammerung, aber er durfte sie nicht sprengen, wenn er sich nicht in einen aussichtslosen Boxkampf mit der bewaffneten Staatsgewalt einlassen wollte, so daß ihm schließlich nichts übrigblieb, als höflich darum zu ersuchen, daß man ihn freiwillig mitgehen lasse. Die Wachstube befand sich im Gebäude eines Polizeikommissariats, und als er sie betrat, fühlte sich Ulrich durch Boden und Wände an eine Kaserne erinnert; der gleiche düstere Kampf zwischen hartnäckig hineingetragenem Schmutz und groben Reinigungsmitteln erfüllte sie. Als nächstes bemerkte er darin das eingesetzte Symbol ziviler Herrschaft, zwei Schreibtische mit einer Balustrade, an der einige Säulchen fehlten, Schreibkisten eigentlich, mit zerrissenem und verbranntem Tuchbelag, auf ganz niedrigen, kugeligen Füßen ruhend und zur Zeit Kaiser Ferdinands mit gelbbraunem Lack poliert, von dem nur noch die letzten Blätter am Holz hingen. Als drittes erfüllte das dicke Gefühl den Raum, daß man hier zu warten habe, ohne fragen zu dürfen. Sein Schutzmann stand, nachdem er den Grund der Verhaftung gemeldet hatte, wie eine Säule neben Ulrich, Ulrich versuchte, sofort irgendeine Aufklärung zu geben, der Wachtmeister und Befehlshaber dieser Festung hob ein Auge von einem Aktenbogen, auf dem er schon geschrieben hatte, als das Geleite eingetreten war, musterte Ulrich, dann senkte sich das Auge wieder, und der Beamte fuhr wortlos fort, auf seinem Aktenbogen zu schreiben. Ulrich hatte den Eindruck der Unendlichkeit. Dann schob der Wachtmeister den Bogen zur Seite, griff ein Buch vom Bord, trug etwas ein, streute Sand darauf, legte das Buch zurück, nahm ein anderes, trug ein, streute, zog ein Aktenbündel aus einem Stoß ähnlicher hervor und setzte seine Tätigkeit an diesem fort. Ulrich hatte den Eindruck, daß eine zweite Unendlichkeit abrollte, während deren die Gestirne regelmäßig kreisten, ohne daß er auf der Welt sei.
Aus der Kanzlei führte eine geöffnete Türe in einen Gang, an dem die Kotter lagen. Dorthin hatte man sogleich Ulrichs Schützling geführt, und da man weiter nichts von ihm hörte, mochte ihm sein Rausch wohl die Segnung des Schlafs geschenkt haben; aber unheimliche andere Vorgänge waren zu spüren. Der Flur mit den Zellen mußte noch einen zweiten Eingang besitzen; Ulrich hörte wiederholt schweres Kommen und Gehn, Türenschlagen, unterdrückte Stimmen, und mit einemmal, als wieder ein Mensch eingeliefert wurde, hob sich eine solche Stimme, und Ulrich hörte sie verzweifelt flehen: «Wenn Sie auch nur einen Funken menschlichen Gefühls haben, verhaften Sie mich nicht!» Die Worte kippten über, und er klang merkwürdig unangebracht, fast zum Lachen, dieser Weckruf an einen Funktionär, er solle Gefühl haben, da doch Funktionen nur sachlich vollzogen werden. Der Wachtmeister hob für einen Augenblick den Kopf, ohne ganz von seinen Akten zu lassen. Ulrich hörte das heftige Scharren vieler Füße, deren Körper offenbar stumm einen widerstrebenden Körper drängten. Dann taumelte allein der Laut zweier Füße wie nach einem Stoß. Dann schlug eine Tür heftig ins Schloß, ein Riegel klirrte, der Mann in Uniform am Schreibtisch hatte schon wieder den Kopf gebeugt, und in der Luft lag das Schweigen eines Punktes, der an der richtigen Stelle hinter einen Satz gesetzt worden ist.
Aber Ulrich schien sich in der Annahme, daß er selbst für den Kosmos der Polizei noch nicht erschaffen sei, geirrt zu haben, denn mit dem nächsten Heben des Kopfes blickte der Wachtmeister nun ihn an, die zuletzt geschriebenen Zeilen blieben feucht glänzen, ohne daß sie gelöscht wurden, und der Fall Ulrich zeigte sich mit einemmal als schon seit längerer Zeit ins hieramtliche Dasein getreten. Name? Alter? Beruf? Wohnung? ...: Ulrich wurde befragt.
Er glaubte, in eine Maschine geraten zu sein, die ihn in unpersönliche, allgemeine Bestandteile zergliederte, ehe von seiner Schuld oder Unschuld auch nur die Rede war. Sein Name, diese zwei vorstellungsärmsten, aber gefühlsreichsten Worte der Sprache, sagte hier gar nichts. Seine Arbeiten, die ihm in der wissenschaftlichen Welt, die doch sonst für solid gilt, Ehre eingetragen hätten, waren in dieser Welt hier nicht vorhanden; er wurde nicht ein einziges Mal nach ihnen gefragt. Sein Gesicht galt nur als Signalement; er hatte den Eindruck, nie früher bedacht zu haben, daß seine Augen graue Augen waren, eines von den vorhandenen vier, amtlich zugelassenen Augenpaaren, das es in Millionen Stücken gab; seine Haare waren blond, seine Gestalt groß, sein Gesicht oval, und besondere Kennzeichen hatte er keine, obgleich er selbst eine andere Meinung davon besaß. Nach seinem Gefühl war er groß, seine Schultern waren breit, sein Brustkorb saß wie ein gewölbtes Segel am Mast, und die Gelenke seines Körpers schlossen wie schmale Stahlglieder die Muskeln ab, sobald er sich ärgerte, stritt oder Bonadea sich an ihn schmiegte; er war dagegen schmal, zart, dunkel und weich wie eine im Wasser schwebende Meduse, sobald er ein Buch las, das ihn ergriff, oder von einem Atem der heimatlosen großen Liebe gestreift wurde, deren