Der Mann ohne Eigenschaften. Robert Musil. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Robert Musil
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9788726539264
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in wunderbarer Weise gegenwärtig bleibende Landschaft hinter ihnen. Während dieser rasenden Fahrt wurde das Gefühl dieser beiden Menschen zu einem einzigen zusammengepreßt; Gehör, Blut, Muskeln wurden willenlos von dem gleichen Erlebnis hingerissen; schimmernde, sich neigende, sich biegende Tonwände zwangen ihre Körper in das gleiche Geleis, bogen sie gemeinsam, weiteten und verengten die Brust im gleichen Atemzug. Auf den Bruchteil einer Sekunde genau, flogen Heiterkeit, Trauer, Zorn und Angst, Lieben und Hassen, Begehren und Überdruß durch Walter und Clarisse hindurch. Es war ein Einswerden, ähnlich dem in einem großen Schreck, wo hunderte Menschen, die eben noch in allem verschieden gewesen sind, die gleichen rudernden Fluchtbewegungen ausführen, die gleichen sinnlosen Schreie ausstoßen, in der gleichen Weise Mund und Augen aufreißen, von einer zwecklosen Gewalt gemeinsam vor- und zurückgerissen werden, links und rechts gerissen werden, brüllen, zucken, wirren und zittern. Aber es hatte nicht die gleiche, stumpfe, übermächtige Gewalt, wie sie das Leben hat, wo solches Geschehen sich nicht so leicht ereignet, dafür aber alles Persönliche widerstandslos auslöscht. Der Zorn, die Liebe, das Glück, die Heiterkeit und Trauer, die Clarisse und Walter im Flug durchlebten, waren keine vollen Gefühle, sondern nicht viel mehr als das zum Rasen erregte körperliche Gehäuse davon. Sie saßen steif und entrückt auf ihren Sesselchen, waren auf nichts und in nichts und über nichts oder jeder auf, in und über etwas anderes zornig, verliebt und traurig, dachten Verschiedenes und meinten jeder das Seine; der Befehl der Musik vereinigte sie in höchster Leidenschaft und ließ ihnen zugleich etwas Abwesendes wie im Zwangsschlaf der Hypnose.

      Jeder dieser beiden Menschen spürte es in seiner Weise. Walter war glücklich und erregt. Er hielt, wie das die meisten musikalischen Menschen tun, diese wogenden Wallungen und gefühlsartigen Bewegungen des Inneren, das heißt den wolkig aufgerührten körperlichen Untergrund der Seele für die einfache, alle Menschen verbindende Sprache des Ewigen. Es entzückte ihn, Clarisse mit dem starken Arm des Urgefühls an sich zu pressen. Er war an diesem Tag früher aus seinem Büro nach Hause gekommen als sonst. Er hatte mit der Katalogisierung von Kunstwerken zu tun gehabt, die noch die Form großer, ungebrochener Zeiten trugen und eine geheimnisvolle Willenskraft ausströmten. Clarisse war ihm freundlich begegnet, sie war nun in der ungeheuren Welt der Musik fest an ihn gebunden. Es trug alles an diesem Tag ein geheimes Gelingen in sich, einen lautlosen Marsch, wie wenn Götter auf dem Wege sind. «Vielleicht ist heute der Tag?» dachte Walter. Er wollte Clarisse ja nicht durch Zwang zu sich zurückbringen, sondern zu innerst aus ihr selbst sollte die Erkenntnis aufsteigen und sie sanft zu ihm herüberneigen.

      Das Klavier hämmerte schimmernde Notenköpfe in eine Wand aus Luft. Obgleich dieser Vorgang in seinem Ursprung ganz und gar wirklich war, verschwanden die Mauern des Zimmers, und es erhob sich an ihrer Stelle das goldene Gewände der Musik, dieser geheimnisvolle Raum, in dem Ich und Welt, Wahrnehmung und Gefühl, Innen und Außen auf das Unbestimmteste ineinanderstürzen, während er selbst ganz und gar aus Empfindung, Bestimmtheit, Genauigkeit, ja aus einer Hierarchie des Glanzes geordneter Einzelheiten besteht. An diesen sinnlichen Einzelheiten waren die Fäden des Gefühls befestigt, die sich aus dem wogenden Dunst der Seelen spannen; und dieser Dunst spiegelte sich in der Präzision der Wände und kam sich selbst deutlich vor. Wie puppige Kokons hingen die Seelen der beiden Menschen in den Fäden und Strahlen. Je dicker eingewickelt und breiter ausgestrahlt sie wurden, desto wohliger fühlte sich Walter, und seine Träume nahmen so sehr die Gestalt eines kleinen Kindes an, daß er hie und da begann, die Töne falsch und zu gefühlig zu betonen.

      Aber ehe das kam und bewirkte, daß ein durch den goldenen Nebel schlagender Funke gewöhnlichen Gefühls die beiden wieder in irdische Beziehung zu einander brachte, waren Clarissens Gedanken von den seinen schon der Art nach so verschieden, wie es zwei Menschen nur zuwege bringen können, die mit Zwillingshaften Gebärden der Verzweiflung und Seligkeit nebeneinander hinstürmen. In flatternden Nebeln sprangen Bilder auf, verschmolzen, überzogen einander, verschwanden, das war Clarissens Denken; sie hatte darin eine eigene Art; oft waren mehrere Gedanken gleichzeitig ineinander da, oft gar keiner, aber dann konnte man die Gedanken wie Dämonen hinter der Bühne stehen fühlen, und das zeitliche Nacheinander der Erlebnisse, das anderen Menschen eine richtige Stütze abgibt, wurde in Clarisse zu einem Schleier, der seine Falten bald dicht übereinander warf, bald in einen kaum noch sichtbaren Hauch auflöste.

      Drei Personen waren diesmal um Clarisse; Walter, Ulrich und der Frauenmörder Moosbrugger.

      Von Moosbrugger hatte ihr Ulrich erzählt.

      Anziehung und Abstoßung mischten sich darin zu einem sonderbaren Bann.

      Clarisse nagte an der Wurzel der Liebe. Zwiespältig ist sie, mit Kuß und Biß, mit Aneinanderhängen der Blicke und gequältem Wegdrehen des Auges im letzten Augenblick. «Drängt das gute Miteinanderauskommen zum Haß?» fragte sie sich. «Will das anständige Leben die Roheit? Bedarf das Friedliche der Grausamkeit? Verlangt die Ordnung nach Zerrissenwerden?» Das war es, und war es nicht, was Moosbrugger erregte. Unter dem Donner der Musik schwebte ein Weltbrand um sie, ein noch nicht ausgebrochener Weltbrand; innerlich am Gebälk fressend. Aber so wie in einem Gleichnis, wo die Dinge die gleichen sind, dawider aber auch ganz verschieden sind, und aus der Ungleichnis des Gleichen wie aus der Gleichnis des Ungleichen zwei Rauchsäulen aufsteigen, mit dem märchenhaften Geruch von Bratäpfeln und ins Feuer gestreuten Fichtenzweigen, war es auch.

      «Man dürfte nie zu spielen aufhören» sagte sich Clarisse und begann mit raschem Herumwerfen der Notenblätter das Stück von vorne, als es zu Ende war. Walter lächelte befangen und folgte ihr.

      «Was macht Ulrich eigentlich mit der Mathematik?» fragte sie ihn.

      Walter zuckte im Spiel die Schultern, als steuerte er einen Rennwagen.

      «Man müßte weiter und weiter spielen, bis zum Ende» dachte Clarisse. «Wenn man bis ans Lebensende ununterbrochen spielen könnte, was wäre dann Moosbrugger? Schauerlich? Ein Narr? Ein schwarzer Vogel des Himmels?» Sie wußte es nicht.

      Sie wußte überhaupt nichts. Eines Tags – sie hätte auf den Tag ausrechnen können, wann das geschah, – war sie aus dem Schlaf der Kindheit erwacht, und da war auch schon die Überzeugung fertig gewesen, daß sie berufen sei, etwas auszurichten, eine besondere Rolle zu spielen, vielleicht sogar zu etwas Großem ausersehen sei. Sie wußte damals noch gar nichts von der Welt. Sie glaubte auch nichts von dem, was man ihr darüber erzählte, die Eltern, der ältere Bruder: das waren klappernde Worte, ganz gut und ganz schön, aber man konnte sich nicht aneignen, was sie sagten; man konnte einfach nicht, so wenig wie ein chemischer Körper einen anderen aufnimmt, der ihm nicht «eignet». Dann kam Walter, das war der Tag; von diesem Tag an war alles «eigen». Walter trug einen kleinen Schnurrbart, ein Bürstchen; er sagte: Fräulein; mit einemmal war die Welt keine wüste, regellose, zerbrochene Fläche mehr, sondern ein schimmernder Kreis, Walter ein Mittelpunkt, sie ein Mittelpunkt, zwei in einen zusammenfallende Mittelpunkte waren sie. Erde, Häuser, abgefallene und nicht weggefegte Blätter, schmerzende Luftlinien (sie erinnerte sich an den Augenblick, als einen der quälendsten der Kindheit, wo sie mit ihrem Vater auf einer «Aussicht» stand und er, der Maler, sich eine Endlosigkeit lang daran entzückte, während sie der Blick in die Welt längs dieser langen Luftlinien bloß schmerzte, als ob sie mit dem Finger über eine Linealkante fahren müßte): aus solchen Dingen hatte früher das Dasein bestanden und war nun mit einemmal ihr zu eigen geworden, wie Fleisch von ihrem Fleische.

      Sie wußte nun, daß sie etwas Titanenhaftes tun werde; was es sein würde, vermochte sie noch nicht zu sagen, aber einstweilen empfand sie es am heftigsten bei Musik und hoffte dann, daß Walter ein noch größeres Genie sein werde als Nietzsche; von Ulrich zu schweigen, der später auftauchte und ihr bloß Nietzsches Werke geschenkt hatte.

      Von da an war es vorwärts gegangen. Wie rasch, war nun gar nicht mehr zu sagen. Wie schlecht hatte sie früher Klavier gespielt, wie wenig von Musik verstanden; jetzt spielte sie besser als Walter. Und wieviel Bücher hatte sie gelesen! Woher waren sie alle gekommen? Sie sah das vor sich wie schwarze Vögel, die in Scharen um ein kleines Mädchen flattern, das im Schnee steht. Aber etwas später sah sie eine schwarze Wand und weiße Flecken darin; schwarz war alles, was sie nicht kannte, und obgleich das Weiße zu kleinen und größeren Inseln zusammenlief, blieb das Schwarze unverändert unendlich. Von diesem Schwarz ging Angst und Aufregung aus.