„So liebte er sicher irgendeine jener zauberischen Holden aus dem Harem?!“
„Wohl möglich!“ —
„Was mag mit ihr geschehen sein? Warum entführte er sie nicht? Ward die Flucht vereitelt?“ — — Mortimer fragte es schnell, atemlos, ohne auf eine Antwort zu warten.
Seine Augen glänzten wie im Fieber, die Lippen zuckten wie in höchster Ungeduld. —
„Still, um Gottes willen, still! Mama kommt!“ flüsterte Gretel; „lass dir um Gottes willen nichts merken, dass wir von dem unglücklichen Türkenthema gesprochen haben, sie will es nicht und wird böse! Und nach Grosspapa frag’ schon gar nicht! — Leg’ auch das Märchenbuch fort und lass nie deine Reisepläne verlauten; Muttchens einziger Trost ist es ja, dass du ein so ruhiger, fleissiger Junge bist und gar keine Anlage zum Ausreisser hast!“
Mortimer lachte etwas nervös und gezwungen, aber er nickte der kleinen Cousine beruhigend zu und drückte ihr abermals die Hand, das war so gut wie ein heiliges Versprechen. — — — — — — — — Es war spät am Abend. Mortimer stand in seinem Mansardenstübchen, pfiff fröhlich vor sich hin und schickte sich an, noch die letzten seiner Bücher und Hefte in das alte Schreibpult des Grossvaters, welches er zum Geschenk erhalten, einzuräumen. Das war ein herrlicher Gedanke von dem guten Tantchen gewesen!
Jede Schublade zog er hervor und bestimmte ihren Zweck, und dann schloss er das mittelste Fach auf und leuchtete hinein, ob es wohl tief und hoch genug sei, sein Tintenfass mit dem Federständer aufzunehmen.
Wie verstaubt und holzwurmzerfressen sah es dahinten aus! — Mortimer steckt die Hand hinein und wischt die Ecken aus ... und plötzlich fühlt er etwas scharfes wie eine Papierkante.
Er leuchtet.
Was ist das? Aus einer schmalen Ritze der Hinterwand ragt ein feines, kaum sichtbares Streifchen Papier.
Wunderlich! — Er fasst es mit dem Nagel und zieht daran, umsonst, es scheint fest eingeklemmt. Das Blut schiesst in die Wangen des Schülers. Ein Geheimfach?
Er neigt das Licht noch weiter vor und lugt scharf in das Schränkchen hinein.
Richtig ... da ... eine feine, kaum merkliche Feder ... Mortimer drückt und schiebt, mit bebendem Finger, er stemmt sein Federmesser dagegen ... und mit leisem Ruck springt eine schmale Holztafel zurück.
Atemlos vor Aufregung starrt der Obertertianer in das sichtbar gewordene Schubfach. Ein Briefumschlag von sehr schwerem, vergilbtem Papier liegt darin. Unverschlossen. Mit bebenden Händen öffnet Mortimer. Eine lange, schwarze Haarlocke, mit verblasstem grünem, golddurchwirktem Florbändchen zusammengebunden, und ein gepresster Orangenzweig, von welchem die weissen Blütenblättchen längst abgefallen sind, liegt darin.
Auf dem Briefbogen, welcher beides umschliesst, steht nur das eine Wort: „Lakmeh“, dahinter ein schwarzes Kreuzchen und das Datum: „19. März 1812. Konstantinopel.“
Wie im Traum starrt Mortimer auf das Rätselhafte hernieder. Zarter Duft, wie ein süsser Hauch längst entflohenen Blumenodems, weht aus den schon halb in Staub zerfallenden Blättern empor und legt sich gleich magischem Schleier über die Augen des einsamen Knaben.
Lakmeh! — Wer war sie?
Jenes glutäugige, berückende Weib aus dem Harem, welches Zum traurigen Schicksal des Grossvaters geworden, welches ihm vielleicht mit bebender Hand die Locke und Blüte zum Abschied gereicht, ehe es in den unheimlichen, geheimnisvollen Tod ging?
Mortimer atmet schwer, stützt das Haupt in beide Hände und starrt in das aufgeschlagene Märchenbuch, welches seitlich neben ihm auf dem Tisch liegt.
Da sieht er ein Bild ... die zauberschöne Prinzessin auf den seidenen Kissen ruhend, die Wasserpfeife in der kleinen Hand, die nackten Füsschen in goldgestickten Pantöffelchen, um sie her die üppige, phantastische, schwärmerische Pracht des Morgenlandes ... und sie blickt den blonden Knaben aus grossen dunkeln Augen todtraurig an und seufzt leise: „Ich bin Lakmeh, welche wegen ihrer Liebe zu dem fremden Manne sterben musste!“ — —
Lakmeh! Ist sie’s wahrlich?
Nein, er täuscht sich ... die reizende Türkin vor ihm sieht nicht traurig aus, im Gegenteil, ihr schönes, stolzes Antlitz lächelt wie in grausamem Spott, und die schwarzen Augen blitzen ihn mitleidlos an, und die roten Lippen lachen kurz und scharf auf: „Ja, sieh’ mich nur an! Ich bin das Schicksal, du Narr, welches dich in die Wunderwelt des Goldenen Hornes lockt! Sieh’, wie das Wasser gleisst und im silbernen Mondschein ein Schifflein trägt! Zurück, Verwegener! Ich bin keine liebeskranke, zage Taube wie Lakmeh — ich bin stark und stolz und werde leben, weil ich dich nicht liebe!“ —
Mortimer schrickt empor.
Hat er geträumt oder sprach das Bild wirklich?
Die geheimnisvolle schwarze Locke ringelt sich wie eine glänzende Schlange über das Papier, und der Knabe starrt mit glühenden, sehnsuchtsheissen Augen darauf nieder. Draussen fällt der Schnee in dichten Flocken. Leise und lind deckt er das nordische Land, die Giebel und Dächer des altmodischen Städtchens, die kahlen Wipfel der frierenden Lindenbäume, — hie und dort ist noch ein Fensterchen hell, und der Nachtwächter stampft mit schwerem Schritt über das holprige Pflaster und singt den trauten alten Vers: „Hört ihr Herrn und lasst euch sagen ...“, dann tutet das Horn ... der Schnee fällt und fällt ... immer höher ... immer dichter ... es ist kalt, bitterkalt ...
Droben aber, in der kleinen Mansardenstube, wachsen schlanke Palmen und eine Wildnis schwül duftender Rosen, Orangen, Flieder und leuchtender Granaten aus den wurmstichigen Dielen empor!
Da glänzen die goldenen Minaretts, da ragen zierliche Kioske, schlanke Türme, Brokatvorhänge rauschen hinter pomphaften Bronzegittern ... und die Wellen des Bosporus spülen mit geheimnisvollem Silberglanz an weisse Marmorstufen ... dort, im Schatten dunkler Zypressen, leuchtet eine weisse Gestalt ...
Schleier wehen ... Geschmeide funkelt ... ein nackter Arm winkt stummen Gruss ... und dann brechen die süssen, berückenden Lieder jäh ab ... eine Stimme lacht hell auf, und zwei dunkle Augen blitzen im Gemisch von Stolz und Spott: „Ich bin nicht Lakmeh, die liebeskranke Taube! Ich werde leben, weil ich dich nicht liebe ...“
II.
Aus dem deutschen Konsulat in der Rue Sakis Agatsch in Konstantinopel tritt ein junger Herr in einfachem, aber sehr schickem und kleidsamem Reiseanzug und wendet sich voll Behaglichkeit der Grande rue de Péra zu.
Man sieht ihm auch ohne grosse Menschenkenntnis schon auf zehn Schritt weit den Deutschen und zwar den deutschen Offizier an.
Sehr gross, schlank und dennoch kraftvoll, die Haltung straff und militärisch, schreitet er leicht und elegant über das Pflaster.
Der Hut beschattet ein regelmässig schönes, noch recht junges, blühendfrisches Gesicht, über dessen Lippe sich ein kleines, goldblondes Bärtchen keck und siegesfreudig kräuselt!
Grosse Blauaugen, auffallend strahlend in lachender Lebenslust, blitzen jeden Vorübergehenden an, als wolle ihm ihr Besitzer voll naiver Freude zurufen: „Sieh’ doch, wie froh und glücklich ich bin! Die ganze Welt möchte ich an meine jauchzende Brust drücken, — die Millionen umschlingen! So vergnügt wie ich kann kaum ein zweiter Mensch auf Erden sein! Kommt, freut euch mit mir!“ —
Wohl folgte manch wohlgefälliger Blick der sympathischen Gestalt, aber zum „Mitfreuen, Schwärmen und Geniessen“ schien niemand recht Zeit zu haben, bis vor dem „Tokatliau“ ein hastig vorübereilender junger Herr plötzlich stutzte, sich umsah, zögernd kehrt machte, und noch einmal, ihn scharf musternd, an dem Fremden vorüberschritt.
Und dann ein leiser Laut freudiger Gewissheit und schnell trat er ihm in den Weg.
„Marken! du musst es sein!“ klang es voll ehrlicher Freude zu dem blonden Reisenden empor, „du selber, Mortimer, oder dein Geist!“