Jedem das Seine - Band I. Nataly von Eschstruth. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Nataly von Eschstruth
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9788711472958
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lächelnd ansah.

      „Recht so, Mortimer! verbrauch’ du nur deine Augen bis zum letzten Tüpfelchen!“ scherzte sie und fuhr dann ernsthafter fort: „Es ist zu dunkel zum Lesen! Komm und setz’ dich ein bisschen mit mir unter den Christbaum, bis der Kaffee aufgetragen wird!“

      Mortimer dehnte lachend die Arme, erhob sich und schritt nach dem Sofa.

      „Du hast recht, Gretel, es wird zu dunkel, obwohl ich nicht las, sondern mir lediglich die Bilder besah! Setz’ dich her ... so ...“

      Das bucklige Mädchen drückte sich zärtlich in den Arm des Sprechers und die dunklen Augen leuchteten wie verklärt!

      „Findest du wirklich, dass ein Tertianer und ein bald sechzehn Jahre altes Fräulein noch solche Babys sind, dass ein Märchenbuch sie tatsächlich begeistern kann?“ —

      „Dieses Märchenbuch muss meiner Ansicht nach die Alten noch mehr interessieren als die Jungen!“

      Grete schaute ganz betroffen empor. „Mortimer, ist das dein Ernst?“

      Da wich das heitere Lachen von dem hübschen Knabengesicht, es ward wundersam nachdenklich, und ein weicher, träumerischer Glanz lag in den Augen.

      „Ich will dir mal etwas sagen, Grete ...“ flüsterte er leis und stockend, „dir vertrau’ ich’s an, sonst keinem! .. siehst du, Grete, um die Märchen an und für sich ist es mir weniger zu tun, als um die Bilder; denn die Geschichten kenne ich beinah’ schon alle, aber die Illustrationen sind mir neu, und weil ich hörte, dass sie so vorzüglich seien und tatsächlich Konstantinopel und das echte orientalische Leben spiegeln sollen, darum wünschte ich mir hauptsächlich das Buch! — Ach Grete ...“ und der Sprecher strich die blonden Haare beinah ungestüm aus der Stirn und seufzte schwer auf: „Ach Grete, wie soll ich armer Kerl wohl jemals anders diese Wunderwelt kennen lernen, als wie im Bild!“ —

      Das blasse Mädchen lachte ein wenig gewaltsam, dieweil es wie ein jähes Erschrecken über ihr Gesicht ging. „Je nun, das genügt ja auch! Wie viel tausend Menschen gibt es, Mortimer, welche ihr Leben lang auf der engen heimatlichen Scholle sitzen und die weite Welt nur aus Bildern oder Büchern kennen lernen!“

      „O diese Unglücklichen!“

      „Unglücklich? Nicht im mindesten. Ich glaube fest und sicher, dass ich nie im Leben eine weite Reise machen werde, und doch erachte ich mich als ein sehr glückliches, zufriedenes Wesen!“

      „Ja du, Grete! Du bist auch ein Engel an Anspruchslosigkeit und Bescheidenheit! Du bist ein Mädchen, welches nicht den heissen, leidenschaftlichen Drang in sich fühlt, in die weite Welt hinauszuziehen, zu sehen ... zu erleben ... zu wagen ... zu kämpfen und zu erringen ...“

      Beinah’ entsetzt starrte die Genannte in die aufgeregt blitzenden Augen des jungen Marken.

      „Mortimer ... wünschst du dir das etwa?“ — Er presste die Hände gegen die Brust. „Ja, Grete, ja!“ —

      „Und weisst, dass diese unsinnige Reiselust unsere Familie an den Bettelstab gebracht hat?“ —

      „Trotzdem! ja vielleicht gerade darum! Meine Väter und Ahnherrn haben mir nichts weiter vermacht, als das glühende Sehnen nach fremden Wundern!“

      „O, welch ein böses Erbe wäre das!“

      „Warum?“ — ein beinah’ wehmütiges Lächeln glitt über das Knabengesicht: „Ich habe ja nichts mehr zum Vergeuden! Wenn ich auch wollte — ich kann beim besten Willen kein Vermögen mehr durchbringen!“

      „Aber du kannst ein Abenteurer ... ein Mensch werden, welcher ohne Ehr’ und Pflichtgefühl an der Landstrasse stirbt!“

      Sie sagte es leise, gepresst, — und er schrak empor und fasste ihre Hand mit beinah’ schmerzendem Druck: „Nein, Grete! das kann ich nicht! Und das glaubst du auch selber nicht von mir! Ich werde vielleicht zeitlebens ein Phantast, ein sehnsuchtskranker Mensch ... aber nie ein ehrvergessener Landstreicher sein!“

      „Ein glücklicher Mensch sollst du werden, Mortimer, der solch närrischen Grillen gar nicht Raum in Kopf und Herz gibt!“

      Ihre magere, kleine Hand streichelte zärtlich, wie beschwörend seine Wange, und Mortimer lachte wieder heiter auf und zog die Cousine tröstend an sich: „Auch das, so Gott will! brauchst dich nicht um mich zu sorgen, du gutes Gretelein, dein vernünftiger Pflegebruder wird keine dummen Streiche machen! Aber wenn ich je in die Lage komme, eine Reise machen zu können, dann tue ich es sicher! Du liebe Zeit! wenn ich als Leutnant solid und einfach lebe, kann ich wohl schon solch kleine Spritztour nach Konstantinopel heraussparen!“

      „Nach Konstantinopel? Warum gerade dorthin?“

      „Ja warum?! Das möchte ich selber wissen, Gretel! Auf die Wunder der ganzen übrigen Welt würde ich gern verzichten, wenn ich nur einmal diejenigen des Morgenlandes, der Türkei schauen könnte! Wundert dich das? — Weisst du nicht, dass eine alte Prophezeiung in unserer Familie existiert, dass der Halbmond uns verhängnisvoll sei ...“

      „Narrheit!“

      „Durchaus nicht! — Tragen wir nicht seit uralten Zeiten den Türkenbund mit dem Halbmond als Helmzier? Und warum? weil einer unserer Ahnherrn ein bildschönes Weib aus des Sultans Harem entführte und sie zur Stammmutter unseres Geschlechtes machte ...“

      „Aber Mortimer! Wie kannst du solch eine alte Wappensage ernsthaft nehmen! Du weisst, dass der ‚Türkenbund‘ längst seine Aufklärung gefunden! Jede alte Adelsfamilie, welche sich ehemals an den Kreuzzügen beteiligt, trägt ihn an der Helmzier zum Andenken an diese heldenhafte Zeit!“

      Mortimer zuckte etwas ungeduldig die Achseln: „Gewiss! Die Neuzeit geht ja jeder Poesie mit ihren widerwärtigen Forschungen zu Leibe! — Leider geben die frühesten Grabsteine und Urkunden die Namen der Frauen nicht an, sonst würdest du sicher irgendeine Suleika oder Fatima als erste der Freifrauen von der Marken lesen! — Je nun, und abgesehen davon ... wie willst du es erklären, dass Onkel Karl die ganze Welt bereist und gesehen hat mit der einzigen Ausnahme von Konstantinopel? Weil er sagte: „Nein! dahin gehe ich nicht. Der Halbmond ist das Verhängnis der Marken. Kam einer von uns nach der Türkei, so hatte er jedesmal die schönsten oder auch unliebsamsten Abenteuer zu bestehen! Das lässt sich durch Jahrhunderte verfolgen! Grossonkel Karl kam nach der Türkei — im Gefolge des Prinzen Ferdinand. Der Sultan lernte ihn kennen, fand grosses Wohlgefallen an ihm, bestimmte ihn, in türkische Dienste zu treten. Er erwarb Ruhm — Ehre .. grosse Reichtümer. Ihm glückte es, er kehrte als beneidenswerter Mann in sein Vaterland zurück, — sein Vetter, welcher ihm gefolgt war und es ebenfalls zu hohen Würden brachte, blieb dort und wurde zwei Jahre später bei einer Palastrevolution grausam ermordet. Ein Fräulein von der Marken besuchte einst mit ihren Eltern Konstantinopel und war so begeistert von irgendeiner Märchenpracht, dass sie sich nicht von dem Anblick trennen konnte. Es hielt sie wie mit zauberischen Gewalten, und zum grossen Ärger des Vaters versäumte man die Abfahrt des Schiffes. — Noch an demselben Tage verbrannte dieses auf offener See und die Familie Marken war wie durch ein Wunder dem furchtbarsten Tod entgangen!“

      Gretel hob abwehrend die Hände —: „Aber von einem Vorfahren erzählt man sich auch, dass er in türkische Dienste trat und, von Gold und Glanz gelockt, Muselman wurde. Die Gewissensbisse aber liessen ihm keine Ruhe, er ward wahnsinnig! — Nun ... und Grosspapa! — denk’ an den armen Grosspapa!“ —

      Mortimer neigte sich plötzlich mit grossen, weit offenen Augen näher.

      „Gretel ..“ murmelte er, „weisst du, was Grossvater in Konstantinopel erlebt hat? Todunglücklich ist er dort geworden .. Aber warum? Ich habe es nie erfahren, Gretel, man sagte es mir nicht ... aber du weisst es sicher! Erzähle es mir, Gretel, ich bitte, ich beschwöre dich! was ist dem Grossvater dort geschehen?“ —

      Das kranke, verwachsene Mädchen verschlang wie in hilfloser Angst die Hände im Schoss. „Ich weiss es nicht, Mortimer ... Ich weiss nur, dass Grosspapa mit irgendeiner Türkin ein Liebesabenteuer hatte, als er in seiner Eigenschaft als Legationssekretär in Konstantinopel war. Sein eigenes Leben soll