Der Kampf entbrannte umgehend. All die jungen Leute, die Knud Aakre seinerzeit unterrichtet hatte, waren nun erwachsene Männer und zugleich auch die aufgeklärtesten der Gemeinde, in allen Geschäften und öffentlichen Ämtern vertreten. Mit ihnen, die seit ihrer Jugend Groll gegen Lars hegten, mußte jener nun den Kampf aufnehmen. Wenn er am Abend nach einer dieser stürmischen Sitzungen auf der Treppe vor seinem Haus stand und den Blick über das Dorf schweifen ließ, war es ihm, als dränge von den großen Höfen, über denen sich nun Unwetterwolken zusammenballten, ein fernes, bedrohliches Donnern zu ihm herauf. Er wußte, daß an dem Tag, da sie unter den Hammer kommen würden, auch die Sparkasse und er selber fallen mußten und daß sich die lange Zeit seines Wirkens zu einem einzigen Fluch über ihm verdichten würde!
In diesen verzweifelten Kampftagen erschien eines Abends auf Høgstad, dem ersten Gehöft an der Einfahrt zum Dorf, eine Kommission, die eine neue Eisenbahnlinie abstecken sollte. Als sich Lars mit den Kommissionsmitgliedern unterhielt, erfuhr er, daß es dabei um die Frage ging, ob die Linie durch ihr Tal oder durch parallel verlaufendes Seitental gelegt werden sollte.
Wie ein Blitz fuhr es ihm durch den Sinn: wenn er es durchsetzte, daß die Bahnlinie durch ihr Dorf verlief, würden alle Grundstücke im Wert steigen. Damit wäre er nicht nur gerettet, sondern sein Ansehen würde auch für spätere Geschlechter gewahrt bleiben! In dieser Nacht konnte er nicht schlafen, vor seinen Augen glänzte und gleißte es, manchmal glaubte er schon die Eisenbahn zu hören!
Am nächsten Tag war er persönlich mit den Kommissionsmitgliedern unterwegs, um das Terrain zu erkunden. Sein Pferd führte sie, und zu seinem Hof kehrten sie wieder zurück. Am Tag darauf zogen sie ins Seitental, und wieder begleitete er sie und brachte sie auch wieder zurück. Bei ihrer Ankunft war der ganze Hof hell erleuchtet. Die angesehensten Männer der Gemeinde waren zu einem rauschenden Fest geladen worden, das Lars zu Ehren der Kommission gab. Es dauerte bis zum nächsten Morgen. Aber es nützte alles nichts. Je mehr man sich dem endgültigen Untersuchungsergebnis näherte, desto klarer zeichnete es sich ab, daß die Bahn nicht ohne große zusätzliche Kosten durch ihr Dorf gelegt werden konnte. Der Eingang zum Tal führte durch eine enge Felsenschlucht, und dort, wo der Weg ins Dorf einschwenkte, beschrieb auch der wasserreiche Fluß einen Bogen, so daß man die Bahnlinie entweder darüber – im selben Bogen, wie ihn jetzt der Weg beschrieb – und an der Felswand entlang führen mußte, wodurch sie jedoch viel zu hoch kommen und zweimal den Fluß überqueren würde, oder aber sie mußte geradeaus und damit über den alten, nun nicht mehr genutzten Friedhof verlaufen. Es war jedoch noch nicht lange her, daß mit der Fertigstellung der neuen Kirche auch der Friedhof verlegt und die letzten Toten hier beerdigt worden waren.
Wenn es bloß an dem Stückchen alten Friedhof liegen sollte, dachte Lars, ob die Gemeinde in den Genuß dieses großen Segens kommt, da wolle er schon seinen Namen und seine Energie in die Waagschale werfen, um dieses Hindernis aus dem Weg zu räumen! Er unternahm sofort eine Reise zu Pfarrer und Propst und dann weiter zur Stiftsdirektion und zum Ministerium. Er redete und verhandelte, er hatte sich alle möglichen Informationen über die enormen Vorteile der Bahnlinie für die Gemeinde einerseits und über die Stimmung der Dorfbevölkerung andererseits verschafft und erreichte es auch wirklich, alle Partner dafür zu gewinnen. Man versicherte ihm, daß das Hindernis mit der Überführung eines Teils der Toten auf den neuen Friedhof als beseitigt gelten und der alte durch königlichen Erlaß für den Bau der Bahnlinie freigegeben werden würde. Er brauche nur, so wurde ihm gesagt, die Angelegenheit im Gemeinderat ins Rollen zu bringen.
Das Dorf war von der gleichen Erregung erfaßt worden wie Lars. Der Geist der Spekulation, der seit vielen Jahren die Gemeinde ausschließlich beherrscht hatte, geriet nun außer Rand und Band. Man sprach über nichts anderes, man dachte an nichts anderes als an Lars’ Reise und ihr mögliches Ergebnis. Als er mit den besten Resultaten zurückkehrte, machte man um ihn viel Aufhebens und sang Loblieder auf ihn. Ja, selbst wenn in diesen Tagen die größten Höfe, einer nach dem anderen, unter den Hammer gekommen wären, hätte das kein einziger bemerkt. Das Spekulationsfieber war vom Eisenbahnfieber abgelöst worden!
Der Gemeinderat versammelte sich. Untertänigst wurde der Antrag gestellt, den alten Friedhof für den Bau einer Eisenbahnlinie zur Verfügung zu stellen. Der Vorschlag wurde einstimmig angenommen. Ja, es war sogar die Rede davon, Lars ein Dankschreiben zu überreichen und ihm eine Kaffeekanne in Form einer Eisenbahn zu stiften. Schließlich einigte man sich darauf, damit lieber noch zu warten, bis alles geschafft wäre.
Das Gesuch kam von der Stiftsdirektion zurück, die ein Verzeichnis aller umzubettenden Leichen anforderte. Der Pfarrer stellte auf Ersuchen das verlangte Verzeichnis auf, aber anstatt es direkt an die Stiftsdirektion zu schicken, schickte er es, und dafür hatte er wohl seine Gründe, zwecks Weiterleitung an den Gemeinderat. Eines der Mitglieder brachte es zur nächsten Sitzung mit. Hier öffnete Lars als Vorsitzender den Umschlag und las das Verzeichnis vor.
Nun wollte es der Zufall, daß die erste Leiche, die exhumiert werden mußte, Lars’ eigener Großvater war. Ein leichter Schauer überlief die Anwesenden. Lars stutzte, las jedoch weiter. Und wieder wollte es der Zufall, daß die zweite Leiche Knud Aakres Großvater war, denn die beiden waren kurz hintereinander gestorben. Knud Aakre sprang von seinem Platz auf, Lars hielt beim Vorlesen inne, alle sahen entsetzt auf. Der alte Knud Aakre war seit undenklichen Zeiten der Wohltäter der Gemeinde gewesen und von ihnen allen ganz besonders verehrt worden. Eine minutenlange Pause entstand. Schließlich räusperte sich Lars und las weiter. Aber je weiter er auf der Liste kam, um so schlimmer wurde es nur, denn je näher man der Gegenwart kam, um so enger war ihre Bindung an die Toten. Als Lars am Ende angelangt war, fragte Knud Aakre still, ob die anderen nicht ebenso wie er den Eindruck hätten, daß um sie her Gespenster säßen. Im Raum begann es eben dämmrig zu werden, und obgleich sie alle erwachsene Männer waren und hier viele beieinander saßen, beschlich sie dennoch ein banges Gefühl. Lars holte ein Bund Streichhölzer aus der Tasche und machte Licht, wobei er bemerkte, dies sei nicht mehr und nicht weniger, als man schon vorher gewußt habe.
„Doch“, sagte Knud, während er auf und ab ging, „dies ist mehr, als ich vorher gewußt habe. Allmählich glaub ich, daß selbst eine Eisenbahn zu teuer erkauft werden kann.“
Die anderen durchfuhr es wie ein Blitz. Die Angelegenheit müsse noch einmal auf die Tagesordnung gesetzt werden, meinte Knud, und er stellte den entsprechenden Antrag.
„In der Erregung, die sich hier ausgebreitet hat“, fuhr er fort, „ist der Nutzen der Bahn bedeutend überschätzt worden, denn falls sie nicht durch unsere Gemeinde führen sollte, müssen an ihren beiden Endpunkten Stationen angelegt werden. Dorthin zu fahren ist natürlich immer umständlicher, als wenn wir die Station mitten im Dorf hätten, das stimmt schon. Aber so furchtbar ist das nun auch wieder nicht, daß man deshalb die Ruhe der Toten stören müßte.“
Knud gehörte zu jenen, denen ausgezeichnete Argumente zufliegen, wenn ihre Gedanken erst einmal in Schwung gekommen sind. Noch vor einer Minute hatte er nicht gewußt, was er hier sagen wollte, nun aber überzeugten seine Worte alle. Lars fühlte seine Stellung wanken. Jetzt war Vorsicht angebracht, und deshalb ging er zum Schein auf Knuds Vorschlag ein. Solche Gefühlsaufwallungen sind stets zu Anfang am gefährlichsten, dachte er, da muß das Ganze vorläufig verschoben werden.
Doch hier hatte er sich verrechnet. In immer größeren und größeren Wellen erfaßte das Entsetzen, Hand an die Leichen ihrer Familienmitglieder legen zu müssen, die Gemeinde. Woran keiner gedacht hatte, solange die Angelegenheit allgemeinen Charakter hatte, wurde zu einer