46. So bezeichnet denn also auch die Schrift die Leibeshüllen als Wohnungen. Um der Klage entgegen zu treten, die früher hingeschiedenen Gerechten würden für die ganze Zeit, welche bis zum Tage des Gerichtes vergeht, ihres vollen Lohnes beraubt, sagt die Schrift, daß jener Gerichtstag einer Heereskrönung wunderbar ähnlich sehe: da sei von einer Zögerung der letzten ebenso wenig die Rede, wie von einer Beeilung derer, welche zuerst gekommen. Der Tag der Siegeskrönung wird von Allen in gleicher Weise erwartet: an diesem Tage sollen die Besiegten der Beschämung verfallen, während die Sieger die Siegeskrone erhalten. Die Schrift läßt aber auch jenen anderen, eben erwähnten Umstand nicht im Dunkel; sie nimmt das Gleichniß von der gewöhnlichen menschlichen Geburt. Wie Diejenigen, welche von jugendlichen Eltern geboren werden, stärker sind, während die im Alter der Eltern Geborenen schwächer werden: so erscheinen auch die früher Geborenen an jenem Tage edler, höher, die Späteren dagegen schwächer. Es ist ja, als wenn auch die Zeit, der Mutter vergleichlich, wegen der großen Menge ihrer Kinder schwächer werde, als wenn die alternde Schöpfung die Stärke der Jugend mit der schwindenden Frische ihrer Kraft verlöre.
47. Während nun die Fülle der Zeit erwartet wird, harren auch die Seelen ihres verdienten Lohnes. Die Einen erwartet Strafe, die Andern Ruhm und Ehre: gleichwohl sind Jene auch inzwischen nicht ohne Pein, wie Diese nicht ohne Lohn sind. Wenn Jene sehen, daß Denjenigen, welche das Gesetz Gottes beobachten, der Lohn ewiger Glorie hinterlegt ist, daß ihre Leibeshüllen von Engeln bewacht werden, während sie selbst für sich die Strafen der Heuchelei und hartnäckiger Widersetzlichkeit, Schande und Schmach nämlich erwarten müssen: dann müssen sie im Aufblicke zur göttlichen Majestät sich scheuen, vor das Angesicht ihres Gottes zu treten, dessen Gebote sie leichtfertig verachtet haben. Übertretung und verwirrende Scham sind hier verbunden wie bei Adam. Er hatte in sorgloser Leichtfertigkeit das himmlische Gebot übertreten und verbarg sich dann im Gefühle der Scham über einen solchen Fall, weil er nicht wagte, mit seinem schuldbeladenen Gewissen in den Glanz der göttlichen Gegenwart zu treten: gerade so werden auch die Seelen der Sünder den Glanz des strahlenden Lichtes nicht ertragen, wenn sie sich erinnern, daß dieses Licht der Zeuge ihrer Verirrungen war.
11. Die siebenfache Freude der Gerechten nach dem Tode: Mahnung, allezeit Gott zuzustreben und vor dem Ende des Lebens nicht zu erschrecken.
48. Die Freude der Seelen der Gerechten kann man in gewisser Reihenfolge sich denken. Vor Allem freuen sie sich, daß sie das Fleisch besiegt und den Lockungen desselben widerstanden haben. Dann aber ist ihre Freude groß, weil sie zum Lohne für ihre Treue und für ihre Unschuld volle Sicherheit erlangen, nicht, wie die Seelen der Gottlosen, allerlei Verwirrungen anheimfallen, durch das Gedächtniß ihrer Laster gequält und durch die Gluth verzweifelnder Sorge gepeinigt weiden. An dritter Stelle entspringt die Freude dem Bewußtsein, daß sie durch göttliches Zeugniß ihre Treue gegen die Gebote derart bestätigt sehen, daß sie einen ungewissen Abschluß ihrer Lebensarbeit im höchsten Gerichte nicht zu fürchten brauchen. Dann folgt die Freude auf die Erkenntniß, daß sie der Ruhe und der ewigen Glorie theilhaftig werden, und in diesem süßen Troste wird auch der Leib im Grabe unter dem Schutze der heiligen Engel im tiefsten Frieden ruhen. Die fünfte Steigerung ihrer Freude enthält eine Fülle reichsten Jubels, weil sie aus dem Kerker des gebrechlichen Leibes zum ewigen Lichte, zur ewigen Freiheit gelangt sind und die ihnen verheissene Erbschaft in Besitz nehmen. Darin ist die Gewißheit der Ruhe wie der künftigen Auferstehung eingeschlossen, wie der Apostel sagt: „Gleichwie in Adam Alle sterben, so werden auch in Christo Alle lebendig gemacht werden. Ein Jeder aber in seiner Ordnung. Der Erstling ist Christus; darnach die, welche Christo angehören und an seine Ankunft geglaubt haben, dann ist das Ende.“ 49 Es wird also eine verschiedene Ordnung der Herrlichkeit und Glorie sein nach der Verschiedenheit der Verdienste. An sechster Stelle wird ihnen offenbar, daß ihr Antlitz zu leuchten beginnt gleich der Sonne und das Licht der Sterne überstrahlt, so daß sie von der Verwesung Nichts mehr empfinden. Endlich aber werden sie mit vollem Vertrauen, ohne Wanken, in voller Gewißheit jubelnd sich freuen, weil sie hineilen, das Antlitz Desjenigen zu schauen, welchem sie den Dienst steter Treue gewidmet haben: von ihm dürfen sie in dem Bewußtsein ihrer reinen Unschuld erhabenen Lohn für ihre geringe Arbeit und Mühe erwarten, und damit fangen sie auch an zu erkennen, daß alle Leiden dieser Zeit nicht würdig sind, solch wunderbar seligen Lohn zu empfangen. Das ist die Ruhe der Seelen der Gerechten nach den sieben Steigerungen, wie sie das Buch Esdras beschreibt: Das ist der erste Genuß der künftigen Glorie, bevor noch die Seele der Wiedervereinigung mit ihrer Leibeswohnung sich erfreut. Deßhalb sagt auch der Prophet zu dem Engel: „Es wird also den Seelen, nachdem sie vom Leibe geschieden sind, wie du versicherst, Zeit gewährt, um alles Dieses zu erkennen? Der Engel aber erwidert: „Sieben Tage wird die Freiheit dieser Seelen währen, damit sie Alles sehen, was in diesen Worten ihnen vorhergesagt ist; darnach aber werden sie in ihren Wohnungen Aufnahme finden.“ 50 Es darf uns nicht wundern, daß diese Offenbarungen so ausführlich von den steigenden Freuden des Gerechten handeln, während sie von den Qualen der Sünder schweigen: es ist ja weit besser, zu erfahren, wie die Schuldlosen beglückt, als wie die Sünder gequält werden.
49. Weil also die Gerechten so wunderbaren Lohn empfangen, daß sie das Angesicht Gottes und jenes Licht schauen, das jeden Menschen erleuchtet: so wollen auch wir von nun an unausgesetzt streben, daß unsere Seele Gott nahe kommt, daß unsere Gebete bei ihm weilen, daß unser Verlangen ihm gehört, daß wir niemals von ihm getrennt werden. So lange wir hier auf Erden weilen, wollen wir im Lesen, Betrachten und Wünschen mit Gott uns vereinigt halten; wollen wir bestrebt sein, ihn zu erkennen, so gut wir Das vermögen. Wir erkennen ihn freilich hier nur zum Theil, weil hier Alles unvollkommen ist, wie dort die höchste Vollkommenheit herrscht: hier sind wir wie Kinder, dort sind wir in voller Kraft. „Hier sehen wir durch einen Spiegel räthselhaft; dort aber sehen wir von Angesicht zu Angesicht.“ 51 Dort wird uns gestattet sein, die Herrlichkeit Gottes in klarer Enthüllung zu schauen, die wir in die Glieder unseres Leibes gebannt, umschattet von den Gebrechen und Mängeln unseres Fleisches nicht erblicken können. „Wer, o Herr,“ ruft Moses, „könnte dein Angesicht schauen und leben?“ 52 Er hat Recht. Wenn unsere Augen nicht einmal das Licht der Sonne ertragen können; wenn versichert wird, daß Jemand, der zu lange dorthin seinen Blick richtet, erblinden muß; wenn also das Geschöpf ein Geschöpf nicht ohne eigenen Nachtheil, nicht ohne eigenes Verderben anschauen kann: wie könnte dann der Mensch in dieser Fleischeshülle ohne Gefahr für sich das strahlende Antlitz des ewigen Schöpfers schauen? Wer ist denn auch rein im Angesichte Gottes, da nicht das Kind von einem Tage rein ist von Schuld, und da Niemand sich der Lauterkeit und Reinheit seines Herzens rühmen kann?
50. Fürchten wir also nicht, von unseren Mitmenschen dereinst aufgenommen zu werden; scheuen wir das Ende nicht, das Allen gesetzt ist! Esdras findet in ihm den Lohn für seine Hingebung, da der Herr ihm sagt: „Du wirst aufgenommen werden von den Menschen, aber du wirst deine Zuflucht haben mit meinem Sohne und mit deines Gleichen.“ 53 Ihm erschien es schon ruhm- und freudenreich, mit seines Gleichen zu verkehren: wie viel glorreicher wird es für uns sein, zu den heiligeren, besseren Geistern zu kommen, deren Thaten wir lobpreisend bewundern?!
51. Wer hat nun früher so gesprochen: Esdras oder Plato? Paulus ist doch nicht den Worten Plato’s, sondern denen Esdras’ gefolgt. Esdras hat in der göttlichen Offenbarung, die ihm zu Theil ward, erkannt, daß die Gerechten mit Christus und den Heiligen sein werden: so sagt auch Sokrates, daß er zu seinen Göttern und den besten Männern eile. Was wir in den Schriften der Philosophen lesen, ist also unser geistiges Eigenthum; Plato hat daraus geschöpft, weil er eigene Wissenschaft darüber nicht besaß: wir aber haben das Ansehen göttlichen Ausspruches für uns. Moses und Elias erschienen mit Christus vereint auf dem Tabor; Abraham nahm die beiden Gäste mit seinem Gotte bei sich auf. Jakob erblickte da Doppellager Gottes; Daniel sah die Gerechten glänzen, wie Sonne und Sterne am Himmel erglänzen.
12. Die ewige Seligkeit, die uns allen von Gott vorherbestimmt