40. Wollen nun auch wir nach dem Tode des Leibes im Guten sein, so müssen wir uns hüten, daß nicht unsere Seele zum Leibe herabsinke, mit ihm sich gewissermaßen vermische; daß sie nicht zu fest in ihm hafte und von ihm verführt werde: dann würde sie, gleichsam trunken von seinen Leidenschaften, unsicher wanken; darum soll sie sich ihm und seinen Lüsten nicht anvertrauen, seinen sinnlichen Regungen sich nicht überlassen. Das Auge birgt Irrthum und Trug, weil das Gesicht getäuscht wird; das Ohr ist jeder Irrung des Gehörs offen; der Geschmack theilt dasselbe Loos. Deßhalb war denn auch die Mahnung wohl am Platze: „Laß deine Augen nur sehen, was recht ist,“ und die andere: „Bewahre deine Zunge, daß sie nichts Böses rede!“ 42 Die Mahnung wäre gar nicht ausgesprochen, wenn nicht Auge und Zunge vielfachen Verirrungen verfiele. Hast du eine Buhlerin gesehen, hat ihr Anblick dich gefesselt, weil ihre Gestalt Liebreiz zeigte, — so hat dein Auge doch geirrt: es hat Verwerfliches geschaut, während es dir Anderes kund that. Hätten diese deine Augen das wesenhaft Wahre bemerkt, so würden sie die schmachvollen Neigungen der Buhlerin, ihre kecke Unverschämtheit erkannt haben; sie hätten entehrende Lüste, verzehrende Leidenschaften, grauenvolle Verwirrung, tiefe Wunden der Seelen, schwer vernarbende Bisse des Gewissens erblickt. Nach dem Worte unseres Herrn: „Wer ein Weib nur ansieht, um ihrer zu begehren,“ hat Derjenige, welcher dem Ehebruch und nicht der Wahrheit sein Auge leiht, etwas wesenhaft Unwahres gesucht: hat er ja zu sehen gewünscht, um seiner Begierde zu fröhnen, nicht um die Wahrheit zu erkennen. So täuscht das Auge, wo die Regung des Herzens bereits sich verirrt hat. Die Herzensgefühle sind also der Täuschung ebenso wie das Gesicht ausgesetzt. Gerade deßhalb ist gesagt: „Gib dich nicht gefangen deinen Augen,“ d. h. laß deine Seele nicht von den Augen in Fesseln schlagen; „eine Buhlerin aber fängt des Mannes kostbare Seele.“ 43 Auch das Gehör ist der Bestrickung ausgesetzt. Oft genug hat ein buhlerisches Weib mit schmeichelndem Worte das Herz eines Jünglings umstrickt, verführt und elend betrogen.
41. So sollen wir uns denn niemals jenen Fesseln und Netzen anvertrauen, die Täuschung und Betrug bergen: wie das Herz versucht wird, so werden die Gedanken der Menschen in ihrer Freiheit behindert durch Gesicht, Gehör, Geruch, Gefühl, Geschmack. Darum sollen wir nicht schlüpfrigem, verführerischem Wege folgen: wir sollen dem wahrhaft Guten nachstreben; ihm sollen wir in treuer Nachahmung anhängen: seine Gegenwart, die Gemeinschaft mit ihm soll uns besser und edler machen, soll unsere Gesittung nach Gottes Bilde gestalten; die stete Gemeinschaft mit der Tugend soll uns gewissermaßen für die Tugend selbst erziehen. Wer dem Guten anhängt, der nimmt ganz von selbst auch das Gute in sich auf, wie geschrieben steht: „Mit dem Heiligen wirst du heilig sein und mit dem unschuldigen Manne unschuldig; mit dem Auserwählten wirst du auserwählt sein und mit dem Verkehrten verkehrt.“ 44 Der fortgesetzte Verkehr und die stete Nachahmung bringt ja schließlich ein Bild voller Ähnlichkeit hervor, weßhalb auch der Psalmist hinzusetzt: „Denn du, o Herr, erleuchtest meine Leuchte.“ Wer nahe zum Lichte hinzutritt, der wird gar schnell erleuchtet: so erglänzt in ihm auch der Strahl des ewigen Lichtes leuchtender aus nächster Nähe. Deßhalb muß denn auch die Seele, welche jenem unsichtbaren, ewig guten Gotte anhängt und Alles flieht, was irdisch und vergänglich ist, eine solche Seele muß Dem ähnlich werden, was sie verlangt, worin sie lebt, wovon sie sich nährt. Sie strebt dem Unsterblichen zu, und darum ist sie selbst nicht mehr sterblich. Die Seele, welche sündigt, stirbt, — zwar nicht in dem Sinne, daß sie in sich selbst aufgelöst würde und zerfiele; wohl aber stirbt sie Gott, weil sie der Sünde lebt. Die Seele, welche von der Sünde sich frei hält, stirbt also auch nicht; sie bleibt, wie in ihrer Wesenheit ungetheilt, so auch in der Gnade und Glorie.
42. Wie sollte auch die Wesenheit der Seele zu Grunde gehen können, da es ja die Seele ist, von welcher das Leben ausgeht! Mit der Seele wird das Leben eingegossen; scheidet aber die Seele, so scheidet auch das Leben: die Seele ist also das Leben. Wie sollte sie nun dem Tode ausgesetzt sein, da sie den Tod aufhebt? Schnee und Feuersgluth vertragen sich nicht, vielmehr schmilzt der Schnee alsbald von der Wärme; Licht und Finsterniß sind nicht vereinbar, da die Finsterniß von dem Licht zerstreut wird: genau so nimmt aber auch die Seele, von welcher alles Leben ausgeht, den Tod nicht an, und darum stirbt sie denn auch nicht.
10. Die Schrift bestätigt, daß die Seele unsterblich ist; thöricht aber ist die Meinung der Philosophen von einer Seelenwanderung.
43. Wir haben nach dem Gesagten einen hinreichenden Beweis für die Unsterblichkeit; derselbe ist aber doch nur ein natürliches, menschliches Zeugniß. Es fehlt indessen nicht an göttlichem Ausspruche. „Ich habe die Macht,“ sagt unser Herr, „mein Leben hinzugeben und dasselbe wiederum zu nehmen.“ 45 Wenn die Seele hingegeben und wieder zurückgenommen, wenn sie in die Hände des Vaters empfohlen werden kann, so ist doch undenkbar, daß sie mit dem Leibe zugleich vergehe. Man könnte da vielleicht einwenden, es sei doch etwas ganz Besonderes, wenn es sich um Christus handele, der ja allerdings die Menschennatur angenommen habe, aber doch in anderer Weise. Wir wollen keine Zeit verlieren und deßhalb lediglich zum Beweise für unsere Behauptung auf jenes Wort hinweisen: „Weißt du nicht, daß Gott noch in dieser Nacht deine Seele von dir fordern kann?“ 46 Der Herr sagt nicht: „Deine Seele stirbt in dir,“ sondern: „sie wird von dir gefordert,“ wie sie dir gegeben ist. Die Seele wird also zurückgefordert, nicht vernichtet. Wird sie zurückgefordert, so bleibt sie auch; sie bliebe nicht, wenn sie stürbe. Wie kann aber die Seele sterben, wenn die göttliche Weisheit mahnt. Denjenigen nicht zu fürchten, der den Leib tödten, aber die Seele nicht tödten kann? So sagt auch der Prophet: „Meine Seele ist immerdar in deinen Händen.“ „Immerdar“ sagt er, nicht: „für einige Zeit.“
44. So empfiehl denn auch du deine Seele in die Hände des Herrn; — nicht bloß in dem Augenblicke, wo sie aus dem Leibe scheidet, sondern auch, während sie noch im Leibe weilt, ruht sie in Gottes Hand: du freilich siehst nicht, woher sie kommt, wohin sie geht. In dir ist deine Seele, aber sie ist auch mit Gott vereinigt. Auch das Herz des Königs ist nach der Schrift in der Hand des Herrn und wird von ihm regiert und geleitet. Das Herz wird nun erfüllt vom Geiste, der ja die eigentliche Kraft der Seele ist; eine Kraft, die sich nicht in äusseren Proben bewährt, sondern in billigen, frommen, gerechten Entschlüssen kund gibt. Wenn man somit sagen darf, das Herz eines Menschen sei in Gottes Hand, so gilt Das noch viel mehr von der Seele. Ist aber die Seele in Gottes Hand, so kann sie auch niemals im Grabe mit dem Leibe eingeschlossen, niemals mit ihm verbrannt werden: sie erfreut sich vielmehr nach ihrem Hinscheiden seliger Ruhe. Darum bauen denn auch die Menschen eigentlich ohne Grund kostbare Grabmäler, als wären dieselben für die Seelen, nicht aber für den Leib bestimmt.
45. Daß die Wohnungen für die Seelen im Jenseits liegen, wird durch das Zeugniß der heiligen Schrift vollauf bestätigt. Lesen wir ja auch in den Büchern Esdras: 47 „Wenn dereinst der Tag des Gerichts kommt, dann wird die Erde die Leiber der Gestorbenen zurückgeben; aus dem Staube des Grabes werden sich die Gebeine Derer erheben, die dort ihre Ruhe gefunden haben. Die himmlischen Wohnungen werden alsdann die Seelen, die dort weilen, zurückgeben, und der Allerhöchste wird sich offenbaren auf dem Throne des Gerichtes.“ Das sind die Wohnungen, von denen der Herr sagt, daß ihrer viele im Reiche seines Vaters seien, und daß er, zum Vater gehend, seinen Jüngern diese Wohnungen bereiten würde. Das Wort des Esdras führte ich an, um festzustellen, daß Das, was in den Büchern der Weltweisen bewundert wird, im Grunde aus unseren heiligen Büchern genommen ist: wenn jene Philosophen nur nicht in thörichter Weise allerlei überflüssige, unnütze Dinge eingemischt hätten. Sie behaupten, zwischen den Seelen der Menschen und Thiere bestehe kein Unterschied; darin aber liege ein erhabener Trost, daß die Seelen der Philosophen