Eingereist über Wladiwostok. Axel Rudolph. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Axel Rudolph
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9788711445044
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      Axel Rudolph

      Eingereist über Wladiwostok

      Abenteuerroman

      Saga

      1. Kapitel

      „Bitte, warten Sie einen Augenblick!“ Der bleichgesichtige, hagere junge Mann, der Helle Beier im Vorzimmer des russischen Paßamtes in Tokio empfangen hat, verschwindet mit ihrem Reisepaß hinter einer der Türen. Heinz Beier, neben seiner Schwester sitzend, sieht sich mit einem gewissen Unbehagen in dem nur wenig möblierten, großen Raum um, an dessen Wänden allerlei Plakate und Ankündigungen in russischer und japanischer Sprache hängen.

      „Überleg es dir doch noch mal, Helle! Willst du wirklich ...?“

      „Ja!“ zerschneidet eine helle, klare Mädchenstimme den Satz. „Zum Vergnügen habe ich nicht das viele Geld ausgegeben und mich an eurer Weltreise beteiligt!“

      „Wenn ich gewußt hätte, was du vorhast, Mädel, hätt’ ich dich nicht mitgenommen!“ brummt Heinz Beier. „Na, wahrscheinlich werden sie dir gar kein Visum geben!“

      „Warum sollten sie nicht? Ich habe nichts mit Politik zu tun.“

      „Trotzdem! Du bist — Gott sei Dank — eine Deutsche, und für uns haben die Herren Moskowiter bekanntlich nicht viel übrig.“

      Helle Beier zuckt die Achseln und schweigt. ‚Sie werden ihr die Einreise nicht gestatten,‘ tröstet ihr Bruder sich selber im stillen. Aber da kommt der Sekretär, oder was er sonst ist, schon zurück. Ohne Helles Paß.

      „Bitte, kommen Sie mit mir!“

      Die Geschwister Beier folgen dem Hageren durch einen langen, schmalen Korridor bis zu einer Tür, die er vor ihnen öffnet. In einem kleineren Zimmer mit kahlen Wänden sitzt hinter einem schmucklosen Schreibtisch ein korpulenter Herr mit einem blaurasierten, etwas feisten Gesicht. Trostlos nüchtern und kahl sieht der ganze Raum aus. Nicht einmal ein Bild Lenins hängt an der Wand.

      Der russische Beamte weist auf zwei einfache Stühle, die vor dem Schreibtisch stehen, und blättert in Helles Paßheft.

      „Sie wollen nach USSR.? Zu welchem Zwecke?“

      „Um meinen Verlobten aufzusuchen.“ Helle netzt die etwas trockenen Lippen mit der Zunge. „Mein Verlobter war lange Jahre Mitglied des Oreg-Kosaken-Chors und wohnt seit einem Jahr in Irkutsk. Er ist russischer Staatsangehöriger.“

      „Orenburg-Kosaken-Chor?“ Der Russe rümpft ein wenig die Nase. „Dieser sogenannte Chor besteht zumeist aus Ehemaligen, Emigranten, die im Ausland gegen ihre russische Heimat hetzen. Ihr Verlobter war einstiger Offizier?“

      „Kola ist heute fünfundzwanzig Jahre alt. Er kann also unmöglich der zaristischen Armee angehört haben. Und da er jetzt seit Jahresfrist in der Sowjetunion wohnt und dort künstlerisch tätig ist, kann doch wohl politisch nichts gegen ihn vorliegen!“

      „Allerdings nicht!“ Der Russe betrachtet unter gesenkten Lidern hervor scharf das junge Mädchen und setzt ein freundliches Gesicht auf. „Wir haben nichts dagegen, daß Ausländer die Sowjetunion besuchen. Im Gegenteil, wir freuen uns darüber und tun, was wir können, zur Hebung des Fremdenverkehrs. Hätten Sie gesagt, daß Sie als Touristin Rußland bereisen wollen, so hätte ich Ihnen ohne weiteres das Visum erteilen können. Nun, Ihre Wahrheitsliebe macht Ihnen alle Ehre. Aber ich bin unter den obwaltenden Umständen verpflichtet, Sie zu ersuchen, mir irgendwelche Unterlagen über den Zweck Ihrer Reise vorzulegen!“

      „Ich habe nur diesen Brief.“ Helle nestelt aus ihrem Täschchen einen Briefumschlag und reicht ihn über den Tisch. „Wie Sie sehen, ist er an mich gerichtet und in Irkutsk abgestempelt.“

      Der Beamte zieht das Schreiben hervor und vertieft sich darin. „Der unterzeichnete Kola Dobkin ist Ihr Verlobter?“

      „Jawohl. Er war vor etwa anderthalb Jahren ebenfalls auf einer Tournee hier in Japan und ist von hier aus nach Irkutsk gereist.“

      „Ich war damals noch nicht auf diesem Posten,“ bemerkt der Beamte beiläufig. „Aber das läßt sich aus unseren Akten feststellen. Ihr Verlobter schreibt, daß er jetzt in Irkutsk tätig ist und daß es ihm gut geht.“

      „Sehr gut sogar. Wie Sie sehen, fühlt er sich in seiner alten Heimat sehr glücklich.“

      „Ich sehe.“ Unauffällig prüft der Beamte mit den Fingerkuppen das Papier, bis er am linken Rand des Bogens die winzige Erhöhung eines Nadelstiches verspürt. „Sie haben diesen Brief in Berlin erhalten? Warum sind Sie nicht auf dem direkten Weg von dort nach Irkutsk gereist?“

      „Ich scheute mich vor der Reise durch ganz Rußland, die ich hätte allein antreten müssen. Da mein Bruder grade mit seiner Kapelle eine Weltreise machte, die auch hier nach Japan führte, schloß ich mich lieber ihm an.“

      „Sie sind der Bruder der Dame?“

      „Heinz Beier,“ nickt der junge Mann und reicht unaufgefordert dem ihn fixierenden Beamten auch seinen Paß hin. „Ich bin Mitglied der Kapelle Silvester Begas.“

      „Die zurzeit hier im Tokio-Hotel spielt,“ nickt der Russe zurück. „Sehr gute Musik. Temperamentvoll. Ich hörte sie vorigen Mittwoch beim Tee im Tokio-Hotel. Und Sie wollen Ihre Schwester nach Irkutsk begleiten?“

      „Das ist mir leider nicht möglich. Mein Vertrag hindert mich daran. Helle hat sich nun mal in den Kopf gesetzt, nach Irkutsk zu reisen. Wenn es nach mir ginge ...“

      „Warum nicht?“ Der Russe lächelt spöttisch. „Sie haben als Deutscher natürlich eine nette Vorstellung von den Verhältnissen in der Sowjetunion. Kann ich mir denken. Beruhigen Sie sich, Herr Beier! Ihre Schwester kann ebenso sicher und bequem nach Irkutsk reisen wie nach ... nach Schmargendorf.“

      Wider Willen muß Heinz Beier lächeln. „Sie scheinen Deutschland ja gut zu kennen!“

      „Ich war vor Jahren an der russischen Handelsdelegation in Berlin. Daher spreche ich auch fließend Deutsch,“ bemerkt der Beamte ruhig und reicht den Paß zurück. „Lassen Sie mir den Brief und auch Ihren Paß hier, Fräulein Beier! Sobald wir an Hand der Ausreiselisten die Personalien Ihres Verlobten festgestellt haben, wird Ihrer Reise nichts im Wege stehen.“

      „Danke,“ sagt Helle Beier, sich erhebend. „Ich darf also morgen wieder vorsprechen?“

      „Nicht nötig! Sie wohnen im Tokio-Hotel? Choroscho! Sie erhalten im Laufe des Nachmittags dorthin Bescheid.“

      *

      Unter den Mitgliedern der Kapelle Begas herrscht ziemliche Aufregung. Die gesamten neun Musiker, einschließlich des Kapellmeisters, des schlanken, eleganten Silvester Begas, umdrängen in einer Ecke der „Halle“ die blonde Helle Beier.

      „Also doch! Sie wollen wirklich allein nach Rußland reisen?“

      Helle Beier hält das mit dem russischen Einreisevisum versehene Paßheft, das vor zehn Minuten ein Bote des Paßamts gebracht hat, krampfhaft fest, als fürchte sie, die Freunde könnten es ihr entreißen. „Natürlich will ich! War ja der Zweck der ganzen Übung! Kola ist nun schon über ein Jahr drüben. Da werdet ihr mir wohl nachfühlen können ...“

      „Beier,“ sagt der lange Silvester Begas bedauernd zu seinem Cellisten, „wenn ich eine Ahnung hätte ... wenn ich bloß einen Schatten von einer Idee hätte, wo ich einen Ersatz für Sie hernehmen sollte, weiß Gott, ich gäbe Ihnen auf der Stelle Urlaub. Denn daß Fräulein Helle mutterseelenallein nach Rußland fährt, das ist ... das ist einfach verrückt!“

      „Habt euch doch nicht!“ wehrt Helle sich ärgerlich. „Ihr tut alle, als ob ich eine Expedition ins Innere Afrikas unternehmen wollte.“

      „Noch schlimmer, Helle! Sie wollen nach Rußland!“

      „Dummes Zeug! Erinnert euch mal gefälligst: Damals, als Kola ganz plötzlich aus Wladiwostok schrieb, habt ihr auch alle möglichen Räuberpistolen aufgetischt. Kola sei von Sowjetagenten verschleppt worden. In eine Falle gelockt! Ganz ramdösig habt ihr mich damals gemacht mit eurem Gerede, daß ich im Traum schon den armen Kola als Erschossenen oder zum mindesten als Eingekerkerten sah!“

      „Ist