Er stand wieder auf und betrachtete sich im Spiegel, der über dem alten Waschtisch hing. Solbjørg hatte immer gesagt, er sei so ein hübscher Mann, aber wenn er sein Gesicht anschaute, sah er nichts Hübsches. Nur eine Maske, die alle zum Narren hielt, aber er konnte sie nicht abnehmen um zu sehen, was darunter war. Er hatte keine Ahnung, wie er das tun sollte.
Am nächsten Vormittag fand Solbjørg eine Karte aus weißem Büttenpapier in einer der Schubladen im Wohnzimmer. Sie wagte es nicht, noch eine offene Postkarte zu schicken, Svarts Frau würde sich sicher wundern. Obwohl sie und Svart nichts zu verbergen hatten, steckte sie die Karte in einen Umschlag und klebte ihn sorgfältig zu, nachdem sie geschrieben hatte: „Wollen wir uns nicht duzen?“
Zwei Tage später lag ein Umschlag mit Svarts Handschrift darauf – sie kannte sie von den Rezepten – in ihrem roten Briefkasten. Auf einem linierten Stück Papier standen nur ein paar Worte: „Gerne, du. Willst du übermorgen mitkommen nach Skagen? Ich brauche mal etwas Abwechslung. Ich warte auf dich unten an dem gelben Haus direkt hinter der Bäckerei, um acht Uhr.“
„Guten Tag, du“, sagte Jens, als sie in seinem grauen Cabrio Platz nahm. Keine einladenden Armbewegungen, keine Andeutung, es sei etwas Ungewöhnliches daran, dass sie zusammen einen Ausflug nach Skagen unternahmen.
Zum ersten Mal hörte sie ihn du zu ihr sagen, und die Aussprache des U klang ein wenig nach einem Y und etwas norwegisch. Sie spürte es auf ihrer Haut, so physisch, als habe er ihr mit dem Zeigefinger über die Wange gestrichen und sie weit unten um die Taille gefasst.
Ihr wurde heiß im Gesicht. Sie musste damit aufhören, jetzt.
Sie nahmen sich nur beide frei. Sie waren Freunde. Nichts weiter.
Aber vielleicht hätte sie nicht mitkommen sollen. Andere konnten die Situation missverstehen. Und sie hatte Ulf nicht die Wahrheit gesagt. Sie hatte ihm erzählt, sie wolle den Bus nach Ålborg nehmen und sich ein paar schöne Sachen kaufen und dann eventuell noch ins Kino gehen.
Ohne etwas zu sagen, zeigte Jens auf ein Feld, an dem sie vorbeifuhren und auf dem drei Rehe grasten. Sein Blick war offen und warm.
Solbjørg legte den Kopf in den Nacken und genoss den Wind und das Zwitschern der Lerchen, das immer wieder kurz zu ihnen drang. Alles war so wunderbar leicht.
Natürlich mussten sie einen Abstecher zum Grenen machen. Das gehörte einfach dazu, wenn man nach Skagen kam, da waren sie sich einig. Uneinig waren sie sich hingegen darüber, ob es 'zum Grenen' oder 'nach Grenen' hieß.
„Nach!“, sagte er.
„Zum!“, sagte sie.
„Kopenhagener Snob!“, sagte er und lächelte, sodass die grünen Augen blitzten und einen anderen Farbton anzunehmen schienen, beinahe wie der Opal, den sie einmal bei ihrer Kollegin Margot Fonteyn, einer englischen Balletttänzerin, an einem Armkettchen gesehen hatte, das sie von Rudolf Nureyev bekommen haben sollte, wie hartnäckige Gerüchte behaupteten.
„Sonnenanbeter!“, war das einzige, was ihr einfiel.
Er hielt an und lachte, bis er beinahe keine Luft mehr bekam. „Etwas so Schlimmes hat noch niemand zu mir gesagt“, japste er. Sie gab ihm einen Klaps auf den Unterarm. Und lachte.
Sie hatten die Spitze der Landzunge fast erreicht. Sie zog die Sandalen aus und trabte ein paar Schritte weiter ins Wasser. Jens folgte ihrem Beispiel und stellte sich mit hochgekrempelten Hosenbeinen neben sie. Nordsee und Ostsee umspülten ihre Füße.
Ein paar Augenblicke später schob er sich hinter sie. Er berührte sie nicht. Dennoch konnte sie die Wärme seines Körpers deutlich spüren.
„Hier stehen wir, mit einem Bein auf jeder Seite“, sagte er.
„Ja“, sagte sie. „So sieht's aus.“
„Warum brauchst du etwas Abwechslung“, fragte Solbjørg, als sie zurückgingen.
„Tove wünscht sich, dass ich anders wäre“, sagte er. „Mehr Partylöwe, lebenslustiger, ein Großstadtmensch eben. Und du, warum bist du mit mir hierhergekommen?“
„Ulf hätte es wohl auch am liebsten, wenn ich anders wäre. Oder gar nicht da wäre. Ich störe ihn immer nur, wenn ich mich ihm nähere.“
Jens sah sie mit einem so aufmerksamen und direkten Blick an, dass sie wusste, er verstand auch das Meiste von dem, was sie nicht zu sagen imstande war.
Nach einer Brotzeit bei Brøndums fuhren sie hinaus zum Strand bei Gamle Skagen und schlenderten am Wasser entlang. Das Bewusstsein, dass sie bald zurückfahren mussten, war wie die von Tautropfen behangenen Spinnennetze an einem frühen Augustmorgen, die ankündigen, dass die Sommerferien bald vorbei sein werden.
Jens erzählte von seiner Kindheit in Oslo und der Lust auf Skiausflüge in die Nordmarka, die er immer noch verspürte. Solbjørg erzählte von damals, als sie in New York aufgetreten war – und davon, dass sie unterrichten würde – vielleicht. Und sie erwähnte ihre Sehnsucht, ein Kind zu haben.
Jens nickte. „Kann ich gut verstehen, diese Sehnsucht.“ Er sagte nichts darüber, dass ein Kind und Ballettunterricht nicht vereinbar wären.
Stattdessen zog er seine Brieftasche hervor und nahm ein Foto heraus. Auf dem Bild war er mit einem Kind in den Armen zu sehen. Es wirkte winzig klein vor seiner breiten Brust, und sein Blick war voller Zärtlichkeit. „Das ist die kleine Tochter meiner Schwester.“
Solbjørg verspürte mit einem Mal den unbändigen Drang, ihr Kind in seine Arme zu legen.
Verrückt, dachte sie einen Moment später. Sie hatte ja kein Kind, und wenn sie eins hätte, warum sollte Jens es dann halten?
„Wollen wir schwimmen?“, fragte er, nachdem sie ein Stück weiter gegangen waren. „Oder hast du etwa deine Badesachen nicht dabei?“
Ohne ein Wort knöpfte sie ihr Blusenkleid auf und deutete auf das, was sie darunter trug.
Sein Gesicht wurde mit einem Mal feuerrot, aber dann lächelte er, als er den weißen Badeanzug bemerkte, der anstatt ihrer Unterwäsche zum Vorschein kam. „Du bist eine auf alles vorbereitete Frau. Das gefällt mir.“
Sie lachte.
Die Nordsee war kühl, aber die Wellen waren angenehm sanft zu Haut und Körper. Jens und sie schwammen ein Stück parallel zum Strand, seine Züge waren lang und ruhig.
Keiner von ihnen hatte ein Handtuch dabei, und so setzten sie sich in den Sand und ließen sich von der Sonne trocknen. Ihre rechte Hand lag neben seiner linken. Es waren nicht mehr als eineinhalb Zentimeter zwischen ihnen. Sie spürte die Wärme seiner Haut. Sie schwiegen. Vielleicht konnten sie auf diese Weise die Zeit zum Narren halten, sie stillstehen lassen.
Schließlich stand Jens doch auf und sagte, dass sie sich wohl auf den Rückweg machen mussten. Er zog sein Poloshirt über, drehte ihr halb den Rücken zu und streifte seine Badehose ab. Sie konnte einen dunklen, schweren Schatten zwischen seinen Beinen erahnen, bevor sie sich abwandte. Ihr Puls wurde unruhig, und sie befürchtete, er könne es ihr ansehen, also suchte sie rasch ihre Sachen zusammen, verschwand hinter ein paar Hagebuttensträuchern und zog sich um.
Auf dem Weg zurück zum Wagen hob er einen kleinen Stein auf. Ein Stück roter Granit mit einem verschnörkelten Streifen, der einem S glich. Er hielt ihn ihr hin: „S für Solbjørg.“
„Ich sammle Buchstabensteine“, sagte sie.
„Tatsächlich? Ich auch.“ Er lächelte.
Als sie durch Gamle Skagen fuhren, entdeckten sie beide gleichzeitig ein Zu-verkaufen-Schild im Fenster eines der kleinen Häuser. Jens hielt an, und sie schauten hinüber zu den winzig kleinen Fenstern. In diesem Moment öffnete sich die Haustür und ein Mann kam heraus, der Immobilienmakler,