Werner fühlt sich so elend wie noch nie. Noch immer ist das verzerrte Lächeln in seinem Gesicht.
„Ist schon gut“, sagt er blechern. Und er versucht, an seiner Schwester vorbeizusehen, dabei begegnet er dem Blick Brigittes, sieht, wie blaß sie ist, und ihm wird noch elender. Die Wunde brennt, und es riecht nach Karbol, und er küßt sie, und er streichelt ihre Haare, tollt mit ihr herum … und das alles ist so weit weg … so unendlich weit weg … und kommt nie wieder, nie wieder … nie wieder. So jedenfalls hämmert es in seinen Adern, pocht das Herz, schlägt es gegen seinen Kopf, grinst es aus seinem Gehirn, zittert es in seinen Kniekehlen. Vorbei, aus, nie wieder, nie wieder. Hauchdünne Nylons …
„Das ist Leutnant Morris“, sagt Vera mit unsicherer Stimme, „und da am Fenster, das ist Leutnant Tebster.“ Sie wendet sich hilfesuchend nach den beiden Offizieren um. „Wir haben ihnen sehr zu danken, Werner“, setzt sie leise hinzu.
Etwas bäumt sich in Werner auf. Vielleicht kann er die olivgrüne Farbe der Uniform nicht mehr ertragen? In den letzten Monaten sah er nichts anderes, Leutnant Prince hatte sie an, Cornedbeef saß sie prall auf dem üppigen Leib … und olivgrün flimmerte es vor seinen Augen, so oft der Sergeant mit dem Gummiknüppel zudrosch. Werner steckt schon zu tief in der Rolle des Gefangenen, des Ausgestoßenen, des Wehrlosen, des Verdächtigen, des Angeklagten … und da sieht er nun seine Schwester und das Mädchen, das er liebt, zusammen mit zwei Männern in amerikanischen Uniformen, in tadellos gebügelten Hosen, in makellosen Hemden, mit ordentlich gebundenen Schlipsen … und er sieht die Goldknöpfe auf den Uniformjacken, und sie glänzen genauso wie die Augen Veras, wie die Augen Brigittes.
Werner beißt die schmalen, blassen Lippen zusammen, versucht ein Kopfnicken, aber es wirkt nicht wie eine Geste der Zustimmung, es ist eher eine Grimasse der Abwehr. Was geht mich das alles an, denkt er.
Leutnant Morris erwidert nichts. Tebster redet auf den Bewachungsoffizier ein. Der schlaksige Mann aus Texas ist ein Mensch, und er findet die Art, mit der man Werner vorführt, deshalb zum Kotzen.
„O.K.“, sagt plötzlich der Offizier des Bewachungskommandos, „three minutes!“
Tebster nimmt Vera und Morris und schiebt sie einfach aus dem Zimmer.
Der Gefangene ist mit Brigitte allein. 180 Sekunden lang. Sie stehen einander fremd gegenüber. In Werners fahlem Gesicht haftet ein gefrorenes Lächeln. Er steht auf, läuft im Zimmer hin und her, immer, wenn er in ihre Nähe kommt, stockt sein Fuß und er wendet sich dann fast abrupt um.
„Es geht dir hoffentlich gut“, sagt er hart.
Brigitte sieht ihn immer nur an.
„Werner?“ fragt sie leise, „… ich weiß nicht, wie das alles gekommen ist. Haben sie wirklich das Geständnis von dir erpreßt?“ Sie erschrickt vor ihrer Frage. Sie bereut sie bereits, aber sie muß das einfach wissen. Vielleicht nur deshalb, weil sie eben zum erstenmal in ihrem Leben durch das Konzentrationslager Dachau gegangen ist, weil ihr plötzlich das Bild ihres toten Vaters vor Augen stand, den SS-Leute in einem solchen Lager ermordet hatten.
Werner sieht durch das Mädchen hindurch. Seine Augen sind flach und kalt. Sein Trotz ist dumm und böse.
„Du mußt auf den Prozeß warten“, entgegnet er mit höhnischer Stimme, „man soll einem schwebenden Gerichtsverfahren nicht vorgreifen … nicht wahr, du weißt doch, daß die amerikanische Justiz erstklassig ist.“
„Oh, Werner“, flüstert Brigitte. Sie steht jetzt ganz nahe neben ihm, sieht zu ihm auf, ihre Lippen zucken, „verstehst du denn nicht?“
„Nein, ich verstehe nicht. Und es ist auch ganz egal.“
Er könnte sich ohrfeigen, aber er kommt nicht dagegen an. Es ist auf einmal alles so falsch, so verbogen, so verwickelt … und er riecht den Duft ihres Haares. Eine Geste würde genügen, ein Wort, eine Zärtlichkeit. Aber er findet sie nicht. Zwischen ihm und dem Mädchen steht die Zeit mit ihrer geballten Gemeinheit, mit ihrem blinden Zufall, mit ihrer gedankenlosen Tücke.
„Ich hoffe, du bist nicht allein“, sagt Werner brutal. Er sieht zum Fenster hinaus. In sein lebloses Gesicht, das in einer Hölle von Qual, Stumpfsinn und Einsamkeit geformt wurde, schrieb sich die Hoffnungslosigkeit ein, das die Verlorenheit zur Maske degradierte. Der Mensch ist das Ebenbild Gottes, aber Gott schien seine Hand von der Zeit genommen zu haben, schien sich auszuruhen, schien sich mit der Unmenschlichkeit seiner Geschöpfe abgefunden zu haben.
Brigitte weint.
„Werner“, flüstert sie. Mehr kann sie nicht sagen.
Er quält sich, indem er sie verletzt. Und er verletzt sich, indem er sie quält. Vor seinem Verstand steht der eiserne Vorhang des Trotzes.
„Ich fände das vernünftig von dir“, sprudelt er heraus, „es hätte sowieso keinen Sinn … Wahrscheinlich hängen sie mich. Wenn ich mit 20 Jahren davonkomme, habe ich Glück … Und so lange zu warten, ist doch Quatsch. Das siehst du ja ein, nicht?“
Ich lüge, denkt er, mein Gott, ich lüge. Ich muß lügen. Ich muß es einfach. Lieber Gott, laß es sie merken, laß sie etwas erwidern, reiß diese Mauer ein, laß mich aufwachen, laß mich ihr sagen, was ich denke, fühle, hoffe, glaube … trotz alledem.
Da geht die Türe auf. Der Leutnant des Bewachungskommandos grinst. Der Sergeant ebenfalls.
„Bißchen kurz, drei Minuten“, sagt er zu Tebster.
Der CIC-Offizier wird rot vor Ärger, denn er hat begriffen, für welchen Zweck der Leutnant die Zeit knapp fand.
Brigittes Gesicht ist ohne Ausdruck, ohne Leben.
Aber Vera hat sich in der kurzen Zeit draußen zusammengenommen. Sie ist entschlossen, den furchtbaren Druck, das Falsche, das Verlogene zu überbrücken. Sie spricht darauf los wie ein Wasserfall. Sie redet fiebrig über alles hinweg, spricht vom Alltag und von Lebensmittelkarten und davon, daß Tante Erna schön grüßen läßt …
Werner ist ihr dankbar, obwohl er gar nicht zuhört. Noch dankbarer ist er seinem Bewacher, der das Handgelenk hochhebt und mit dem Finger auf die Armbanduhr tippt.
Schöne Uhr, denkt Werner mechanisch, und er stellt fest, daß es eine Pilotenuhr der deutschen Luftwaffe ist.
In diesem Augenblick geht Tebster auf Werner zu. Er schiebt einfach den Kaugummi von einer Seite auf die andere. Er haut Werner Eckstadt auf die Schulter, packt ihn mit der Hand im Genick. Es ist eine warme, gute, trockene Hand …
„Take it easy“, sagt der Leutnant, „nimm’s nicht so schwer.“ Er hat eine rauhe Stimme und flucht kurz und bündig: „Verdammt!“
Werner schluckt.
„Wir kommen bald wieder“, sagt Vera.
„Sicher“, antwortet Werner.
„Und verlaß dich drauf“, fährt Vera fort, „wir holen dich hier heraus. In einem Vierteljahr lachst du drüber.“
„Sicher“, erwidert Werner zerstreut.
Und Vera senkt den Kopf und verläßt sehr schnell den Raum. Als Brigitte ganz dicht an ihm vorbeigeht, bewegt Werner die Lippen. Aber er kann nichts mehr sagen, weil ihm ein dicker Kloß die Kehle zupreßt, seit ihm der amerikanische Leutnant Tebster ins Genick faßte und schüttelte, und seitdem er spürte, daß das eine einfache, ehrliche Geste war … Und auch Brigitte findet kein Wort, wirkt fast erleichtert, daß sie aus dem Raum herauskommt, daß sie Werner nicht mehr zu sehen braucht, den Mann, den sie liebt, trotz alledem. Und jetzt, Sekunden später, Sekunden zu spät, wird ihr einfallen, was sie alles zu sagen vergaß, was sie nie mehr vergessen wird, wenn sie jemals eine zweite Chance hätte.
Als die vier wieder in dem Wagen sitzen, sagt Vera:
„Wir hätten nicht hierherkommen dürfen. Noch nicht …“
Niemand