Jetzt sah Elvira ihn genauer an. Wie zart und weich seine Haut war. Er war ein sehr hübsches Baby. Gut genährt, mit flaumigen, weichen, dunklen Haaren und einer kleinen hübschen Nase. Er hatte winzige, zarte Fingerchen. Als Elvira sie streichelte, griff er danach und umklammerte sie.
„Florin heißt du. Das ist ein blumiger, schöner Name. Du siehst deiner Mutter sehr ähnlich“, flüsterte sie. Elvira wischte sich Tränen aus dem Gesicht. Sie klemmte noch einige Kissen zwischen Sessel und Sofa und schaute dann auf die Wanduhr. Für das Baby benötigte sie wichtige Dinge, wie beispielsweise ein Fläschchen, Milchpulver und Windeln. Der Spätkauf um die Ecke hatte noch 36 Minuten geöffnet. Das Baby alleinzulassen, löste ein großes Unbehagen in ihr aus, aber sie wusste keinen anderen Ausweg. Schnell zog sie alle Vorhänge zu, nahm ihre Geldbörse, einen Korb und verließ das Haus.
Schon von Weitem sah sie einen Krankenwagen auf der Straße parken. Zwei Männer schoben eine zugedeckte Liege in das Auto. Elvira ging langsam weiter. Ihr Herz pochte. Ein Rettungsarzt sprach ins Mobiltelefon: „Nein, die Frau ist bereits tot. Nein, keine Papiere.“
Er stieg in das Auto und verriegelte es von innen. Ein junger Mann sah dem Krankenwagen nach.
„Kannten Sie die Frau?“, fragte ihn Elvira leise. Er schüttelte den Kopf. „Nein. Ich habe sie hier gefunden und den Notdienst angerufen. Aber sie war bereits tot. Ich muss noch auf die Polizei warten. Und das am Weihnachtsfeiertag.“
Elvira fiel das Atmen schwer. „Auf die Polizei?“, fragte sie nervös.
„Ja, ich muss eine Zeugenaussage machen.“
„Aber warum denn eine Zeugenaussage?“
Der junge Mann schüttelte den Kopf. „Nichts kann ich erzählen. Trotzdem muss ich hier in der Kälte rumstehen und warten“, meckerte er misslaunig. Elvira wurde schwindelig, aber sie ließ sich nichts anmerken.
Ein Polizeiwagen kam und bremste scharf. Zwei Beamte stiegen aus. Der junge Mann rieb seine Hände und ging auf sie zu. Elvira wandte sich ab.
„Halt! Sind Sie eine Zeugin?“, rief ihr einer der Polizisten nach. Elvira blieb kurz stehen und schüttelte den Kopf, ohne sich umzudrehen. Der junge Mann mischte sich ein: „Nein, ich bin der Zeuge, aber ich habe auch nichts gesehen.“ Einer der Polizisten nahm seine Aussage auf. Elvira wollte unbemerkt davonschleichen. Aber der andere Polizist folgte ihr.
„Warten Sie bitte!“, bat er freundlich. „Wohnen Sie hier in der Nähe?“ Elvira blieb stehen und nickte.
„Haben Sie die Frau vielleicht schon mal gesehen?“ Elvira schüttelte den Kopf.
„Sind Sie sicher?“, fragte der Polizist. „Ja, ich bin hier eben erst zufällig vorbeigekommen. Ich muss noch rasch etwas besorgen“, antwortete Elvira. Sie beeilte sich, wegzukommen, und hastete zum Laden. Er war noch offen. Sie war die letzte Kundin.
Zum ersten Mal in ihrem Leben kaufte sie Windeln, eine Babyflasche, Milchpulver und Babycreme. Die Kassiererin wirkte müde und zog alles, ohne Fragen zu stellen, über den Scanner, nahm das Geld und verabschiedete sich, ohne Elvira anzusehen.
4. Kapitel
Eine behütete Kindheit
Über den Vorfall gab es drei Tage nichts Neues. So lange kaufte Elvira sich alle lokalen Zeitungen. Dann entdeckte sie eine Notiz, eine Meldung zur Toten in ihrer Straße unter den Polizeinachrichten. Niemand kannte ihren Namen. Im Artikel hieß es, die Frau habe sich vermutlich illegal hier aufgehalten. Es stand nichts dazu in den wenigen Zeilen, warum sie gestorben, woher sie gekommen oder ob sie verfolgt worden war. Kein Wort darüber, dass sie Mutter war und nur wenige Tage zuvor ein Baby entbunden haben musste. Das Landeskriminalamt bat nur um Mithilfe zur Identifizierung. Trotz intensiver Ermittlungen konnte die Identität der unbekannten Frau nicht ermittelt werden.
Elvira schnitt die Meldung aus und verstaute sie in einem Holzkästchen mit einem bunten Schmetterling darauf. Sie hatte Florins Mutter ein Versprechen gegeben und war fest entschlossen, ihr Wort zu halten und sich um Florin zu kümmern. Sie wollte den Jungen großziehen, als ob es ihr eigenes Kind oder Enkelkind wäre.
Und so geschah es auch. Elvira war sehr gefordert von dieser neuen Aufgabe in ihrem Leben. Der kleine Wurm war hilflos und herzergreifend. Nie wieder wollte sie ihn hergeben. Sie kümmerte sich liebevoll um Florin, so gut sie es eben konnte.
Er wuchs heran und Elvira war immer in Sorge. Niemand sollte erfahren, wie er zu ihr gekommen war. Sie befürchtete, man würde ihn ihr sonst wegnehmen. So schickte sie ihn weder in den Kindergarten noch zur Schule. Wenn er krank wurde, ging sie zu ihrem Hausarzt, schilderte seine Beschwerden so, als ob sie selbst sie hätte, und ließ sich Arznei verschreiben, die er in geringerer Dosierung dann bekam. Er besaß also auch keine Krankenkarte. Kurz gesagt: Er war nirgends registriert und so auch bei keinem Amt oder keiner Behörde gemeldet. Er besaß keinen Ausweis und gehörte auch keiner Kirchengemeinde oder Religion an. Falls jemand bei ihnen vorbeikam, zum Beispiel der Schornsteinfeger, sagte Elvira, sie sei Florins Oma und seine Mutter würde im Ausland studieren.
In Großstädten wird wenig nachgefragt und viel toleriert. Warum sollte sich jemand in eines von mehreren Millionen Leben einmischen? Der Junge war fröhlich und Elvira unauffällig. Lange schien das gutzugehen.
Florin war ein kluges Kind. Er lernte von Elvira kochen, stricken, sticken, lesen, rechnen und Klavier spielen. Sie unterrichtete ihn jeden Tag von 10 Uhr bis 13 Uhr in Mathematik und Deutsch, lernte mit ihm Gedichte auswendig, erklärte ihm die Länder und ihre Besonderheiten und pflanzte mit ihm auf dem Fensterbrett Kräuter und Blumen. Nur für ihn besuchte sie sogar einen Senioren-Internetkurs an der Volkshochschule und lernte gemeinsam mit ihm online Englisch und Französisch.
Am Nachmittag durfte Florin auch nach draußen gehen und im Hinterhof spielen. Sie machten gemeinsam regelmäßig Ausflüge in große Parks. Sie fütterten Tauben oder Schwäne am See. Ihre Freizeitaktivitäten durften nie viel kosten. Elvira wusste genau, wo man in der Stadt Schönes erleben konnte, ohne dass man dafür Geld bezahlen musste, denn ihre Rente war nicht üppig. So musste sie gut haushalten.
Florin las viel in Büchern, die ihm Elvira aus der Bibliothek mitbrachte. Da sie immer Angst hatte, es könnte irgendjemand dahinterkommen, dass Florin nicht ihr Enkel war, erzog sie ihn, möglichst nicht aufzufallen. Sie wusste, dass es eigentlich eine Straftat war, ein Kind aufzunehmen, ohne es bei den Behörden anzumelden. Das machte es erforderlich, anderen Menschen nichts von sich zu erzählen, sich niemandem anzuvertrauen. Solange Florin sich erinnern konnte, hatte Elvira ihn ermahnt, was er sagen solle, wenn jemand nachfragte, woher er komme oder wer er sei. „Ja, ja, ich weiß“, antwortete Florin. „Ich heiße Florin und bin dein Enkel. Solange meine Mutter im Ausland studiert, wohne ich bei dir.“
Florin fehlte es an nichts. Nur sehnte er sich nach gleichaltrigen Kindern. Aus Angst und Vorsicht sollte er keine Freundschaften vertiefen. Wenn es ihm langweilig wurde, spielte er Klavier. Die Musik beruhigte ihn, und während er spielte, verfiel er in Träumerei. Er stellte sich all das vor, was ihm fehlte, oder was er nicht konnte. Wie er mit einem Freund lachend auf dem Fahrrad um die Wette fuhr oder wie er mit Kumpels auf dem Sportfeld tobte. Er stellte sich seine Mutter vor. Sie war wunderschön, breitete die Arme nach ihm aus und lachte ihn glücklich an. Die Tasten des Klaviers wurden sein innerer Halt. Er brauchte das Spielen, um zu überleben, genauso wie das Ein- und Ausatmen.
Immer öfter wurde es ihm eintönig, nur mit Elvira zu reden. Die Neugier, andere Menschen, vor allem Gleichaltrige, näher kennenzulernen, wuchs von Tag zu Tag. Er wünschte sich, in einer Fußballmannschaft mitzuspielen. Aber Elvira blieb streng. Deshalb war er manchmal sehr frech zu ihr oder ärgerte sie mit Absicht, indem er extra