Das unsterbliche Nashorn. Dorothea Flechsig. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Dorothea Flechsig
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Книги для детей: прочее
Год издания: 0
isbn: 9783943030792
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den Zwanzigern des 20. Jahrhunderts für den damaligen Hausmeister errichtet. Seinerzeit stand rund um das winzige Fachwerkgebäude eine Textilfabrik, in der glitzernde Kleider und edle Anzüge genäht wurden. Nun waren dort großzügige Wohnungen untergebracht.

      Elvira wohnte seit vielen Jahrzehnten in diesem denkmalgeschützten kleinen Haus. Sie war, schon bevor Florin in ihr Leben trat, ein wenig wunderlich. Sie lobte ihre Topfpflanzen bei kräftigem Wuchs und belohnte sie, indem sie ihnen „Das Veilchen“ von Mozart auf dem Klavier vorspielte. Sie hatte allerlei Berufe in ihrem Leben ausgeübt. Eine Zeit lang hatte sie an einer Musikschule Klavier unterrichtet. In ihrem kleinen Wohnzimmer stand ein Klavier eng zwischen Bücherregale gequetscht, auf dem sie hingebungsvoll spielte. Sie saß oft am geöffneten Fenster und befahl den Spatzen, nicht so laut zu streiten, sie sprach mit Krähen und Tauben und sie hatte eine Vorliebe für Zahlen. Sie zählte Dinge wie: Fenster in Hausfassaden, leere Parkbänke, Flugzeuge am Himmel, alles Mögliche. Sie sagte, Zahlen würden sie beruhigen. Ihre Lieblingszahlen waren die 2 und die 9, die 29 und die 92. Aber ihre Glückszahl war die 8.

      Elvira war nicht Florins echte Großmutter. Aber für Florin war sie seine ganze Familie. Sein Zuhause. Florin liebte sie. So, wie andere Kinder ihre Mama lieben oder ihren Papa, oder eben ihre leibliche Oma. Er war ihr sehr dankbar. Denn hätte es Elvira nicht gegeben, wäre Florin bestimmt in einem Kinderheim groß geworden. Ohne sie hätte er vielleicht nie sein musikalisches Talent entdeckt. Florins Gabe war das Spiel mit den Tasten auf dem Klavier.

      Alles, was Florin von seiner echten Mutter besaß, war sein Vorname. Er hatte weder eine Geburtsurkunde noch einen Pass. Es ist nicht einmal sicher, ob er in Deutschland geboren wurde. Jahrelang feierte er mit Elvira seinen Geburtstag am 25. Dezember. An diesem Datum hatte ihn Elvira mit zu sich in ihr kleines Reich genommen. An diesem besonderen Tag buk sie ihm jedes Jahr gleich zwei Kuchen: einen Stollen und eine Quarktorte mit Mandarinen. Sie scherzte immer, ein bisschen Entschädigung müsste dafür sein, dass er bei einer schrulligen Oma aufwuchs.

      Florin konnte sich weder an seine Mutter noch an seinen Vater erinnern. Er wusste nicht einmal ihre Namen. Es gab auch kein Foto. Nichts. Noch nicht einmal einen Nachnamen. Alles, was er konnte und wusste, hatte ihn Elvira gelehrt.

      Ganz genau zwölf Jahre, sechs Monate und drei Tage haben Florin und Elvira zusammengelebt. Daran erinnerte sich Florin so exakt, weil Elvira auch die Tage zählte, die sie gemeinsam verbrachten. Sie betonte immer, dass mit ihm für sie ein neues Zeitalter begonnen hatte: die Florinzeit.

      Ihr gemeinsames Leben nahm also am ersten Weihnachtsfeiertag, und zwar am späten Abend, seinen Anfang.

      Elvira hatte einen ungewohnt starken Drang verspürt, noch einmal an die frische Luft zu gehen, obwohl es schon finster war. So erzählte sie es Florin auf jeden Fall immer. Sonst mied sie die Straßen in der Dunkelheit. Es war aber, als ob sie etwas lockte, ein sehnsuchtsvolles Gefühl, die sicheren eigenen vier Wände zu verlassen. Ein plötzliches unaufhaltsames Verlangen, sich unter freien Himmel zu begeben. Sie band ihr Kopftuch um, nahm den grauen Mantel vom Haken und verließ ihr kleines Haus. Als sie nach oben blickte, sah sie, dass der Himmel voller Sterne war. Sie hielt inne und staunte. Eine hauchdünne Schicht Schnee bedeckte die sonst schmutzigen Straßen. Auf Balkonen und hinter Fenstern flimmerte feierliches Licht. Es roch nach dem feinen Schnee. Die kühle Abendluft wirkte reiner und frischer als tagsüber. Es schien so, als ob überall Familien glücklich zusammensitzen und gemeinsam viel Zeit verbringen würden. Elvira fühlte sich besonders einsam und sie dachte voller Schmerz an ihren geliebten verstorbenen Mann. Langsam ging sie den Gehweg entlang. Sie begann, weiße Autos zu zählen. Parkende weiße Autos und vorbeifahrende. Bei acht hielt sie inne. Sie konnte das seltsame Geräusch erst nicht zuordnen. Aus einem düsteren Hauseingang vernahm sie ein eigenartiges Keuchen und Wimmern. Verängstigt blieb sie stehen. Zuerst dachte sie, es sei ein verletztes wildes Tier. Ein Stadtfuchs vielleicht oder ein Waschbär. Plötzlich tauchte aus dem düsteren Eingang eine junge Frau aus der Dunkelheit auf. Blass, geradezu kreideweiß, stellte sie sich überraschend vor Elvira und drückte ihr ein Neugeborenes, das in eine Wolldecke gewickelt war, fest in die Arme. Sie sah Elvira bittend an und sprach kraftlos in einem Gemisch aus englischen Wörtern und gebrochenem Deutsch: „Please, help! Please! Name Florin.“ Ihre Augen blickten flehend, leidend. „Take care of him! Promise, nimm Du!“ Ihr Blick war so traurig und eindringlich, dass Elvira sich nicht von ihrem Gesicht abwenden konnte. Zart berührte die junge Mutter die Wange ihres Sohnes. Küsste ihn auf die Stirn. Mit zitternden Fingern streichelte sie dem unschuldigen Geschöpf über den Kopf. Dann taumelte sie seltsam vor und zurück. „Promise, verspreche!“, hauchte sie und Elvira verstand, obwohl sie kaum Englisch konnte. „Ja, yes, ich schwöre! Ich gebe Ihnen mein Wort!“ Mit einem kurzen Seufzen kippte die Frau nach vorne auf Elvira und glitt an ihr hinunter. Elvira hielt das Baby in ihren Armen und konnte die Frau nicht halten. „Was ist denn mit Ihnen?“ Sie begann zu rufen: „Hilfe! Hilfe! Wir brauchen einen Arzt!“

      Die unbekannte Frau lag vor ihren Füßen, quer auf dem nassen Bürgersteig im schmelzenden Schnee. Elvira hielt Florin fest. Sie kannte sich nicht aus mit Babys. Sie hatte keine eigenen Kinder und die fremde Frau hatte sie noch nie gesehen.

      Was sollte sie tun? Nach dem Tod ihres Mannes hatte Elvira bescheiden und zurückgezogen gelebt, allein, aber zufrieden. Nun hielt sie den winzigen Florin im Arm. Eine junge Frau lag ihr zu Füßen auf dem Asphalt. Reglos. Elvira wollte nochmals um Hilfe rufen, aber ihre Stimme blieb weg. Nur einen eigenartigen Luftstoß brachte sie hervor. Niemand war zu sehen. Kein Mensch, weder auf der Straße noch an einem der Fenster. Die Straße war wie leergefegt. Elvira bückte sich vorsichtig mit dem Kind im Arm und rüttelte mit einer zitternden Hand an der Schulter der Frau. Auf deren schwarzgelocktem Haar blieben einzelne Schneeflocken liegen. Ihr Gesicht war bleich und ihr Blick starr. Sie rührte sich nicht. Auch kein Atem war zu sehen. Tot. Elvira sah den kleinen Florin wie gebannt an. Sie blickte um sich, und wie von einer unerklärlichen Macht getrieben, machte sie sich davon. Ohne nachzudenken, lief sie, das Baby auf dem Arm, mit eiligen Schritten davon. Sie huschte mit dem Winzling unbemerkt durch beide Hinterhöfe und verschwand in ihrem kleinen Haus. Im Dunkeln lehnte sie an der Tür und atmete schnell. Sie schnappte nach Luft. In ihren Ohren hörte sie ihr Herz pochen.

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      3. Kapitel

       Zweisam statt einsam

      Als ihr Atem ruhiger wurde, legte Elvira das Bündel aufs Sofa im Wohnzimmer. Sie schob ihren Sessel davor, damit es nicht hinunterfallen könnte. Dann setzte sie sich auf einen Stuhl und atmete durch. „Ach, herrje! Was habe ich nur getan?“, sprach sie zu sich selbst. Sie sah den Winzling an und schämte sich. „Ich habe ein Baby genommen und eine Tote allein auf der Straße zurückgelassen“, murmelte sie.

      Elvira konnte nicht ruhig sitzen, stand auf und lief im Zimmer auf und ab. Währenddessen verzog das Baby seinen Mund, mit den winzigen Armen und Beinen fing es an zu strampeln und wild herumzufuchteln. Es begann unzufrieden zu quengeln und dann bitterlich zu weinen.

      „Was mach ich jetzt? Was mach ich jetzt? Ich kann das nicht!“, murmelte Elvira. Sie versuchte, tief in den Bauch zu atmen, rechnete 8 x 92 und zählte dann in Achterschritten von 736 rückwärts: 728, 720, 712. Das half ihr, und so konnte sie sich etwas beruhigen. Vorsichtig nahm sie Florin in die Arme, wiegte ihn hin und her und sang leise ein Schlaflied: „Schlaf, Kindlein, schlaf! Dein Vater hüt’ die Schaf. Die Mutter schüttelt’s Bäumelein, da fällt herab ein Träumelein.“ Sie verstummte traurig. Bei der Zeile „die Mutter schüttelt’s Bäumelein“ musste sie an die Frau denken, die nur einen Block weiter verlassen, tot und allein auf dem Gehweg im Kalten lag.

      Elvira schämte sich. Florin weinte wieder. Sie streichelte den Kleinen über die Wange und wiegte ihn. Aber das gefiel Florin gar nicht. Sein forderndes Quengeln wurde immer energischer, bis er laut schrie. Elvira wurde unsicher. Sie legte Florin zurück aufs Sofa. Aufgeregt lief sie im Wohnzimmer hin und her. Sie wollte wieder zählen, aber vor lauter Sorge um den Kleinen konnte sie sich nicht konzentrieren. „Was mach ich denn jetzt? Was mach ich denn jetzt?“, murmelte sie.

      Sie