„Laß dir doch nich wie’n Drachen aus die Luft holen — mang die mang kommste jetzt doch nich mang — die müssen sich doch erst mal jrindlich ausschnattern“, sagte er.
„Det is doch keen Jrund nich, dette mir den juten schwazzen Rock zareißt, wat knautschte denn ibahaupt an mir rum“, sagte August verdrießlich und versuchte die Stellen, an denen Onkel Karls Handgriffe noch sichtbar, wieder zu glätten.
„Zu dir soll eena mal freindlich sind“, sagte Onkel Karl vorwurfsvoll.
„Aba nich so ...“ und Onkel August wandte sich zu Herrn Lemke: „Tach, Willem!“
„Tach, Aujust! Na?“ sagte Herr Lemke erwartungsvoll und schüttelte ihm die Hand.
„Watten na? Jakeen na! Ick frage, na?“ sagte Onkel August.
„Na, denn is ja jut, bessa janischt als wat Schlimmet“, sagte Herr Lemke.
„Derf ick an diese jroßartje Untahaltung teilnehmen?“ fragte Onkel Karl.
„Wennste mir nicht bei anfaßt“, sagte Onkel August.
Aber in diesem Augenblick teilte sich der Kreis der Damen, Tante Liese schob ihre Tochter, einen hübschen Backfisch vor sich her und ermunterte dabei: „Zier dir doch nich so, sach die Onkels jun’ Tach!“
„Trägste imma noch Ponnis?“ fragte Onkel Karl freundlich, „is doch janich mehr Mode nich! Son jroßet Mechen, bald ’n Freilein —“ schmeichelte er — „und ’n Breitjam haste doch ooch schon, wahr?“
„Karrel — schämste dir nich!“ verwarnte ihn Frau Lemke, „wo kannste denn sonne Redensarten zu det Kind machen! Jertrud, jeh bei Liesken, die wird dir untahalten. Und denn, bitte scheen, meene Herrschaften, wollen wir uns doch setzen, wozu sind denn die Stiehle da?“
„Jertrud vasteht mir schon“, verteidigte sich Onkel Karl, aber niemand hörte auf ihn, jeder suchte an dem schon gedeckten Kaffeetisch Platz zu nehmen.
„Ick sitz wieda hier“, sagte Tante Liese, auf die Sofaecke deutend.
„Und ick dricke mir“, sagte Onkel Karl zu sich selbst und verschwand, ohne daß es bemerkt wurde.
Im Seebad Wilmersdorf
Während Tante Liese ihre Meinung äußerte, daß es „mit die sojenannten Heiratannongse man so so sei“ und Onkel August nicht begriff, warum Lieschens Bruder Edwin keinen seiner Freunde, unter denen doch gewiß einer wäre, als Heiratskandidaten ins Haus brächte, während dieses Thema etwas umständlich behandelt wurde, hatte Onkel Karl längst seine rote Badehose zusammengerollt, das „Rubbelhandtuch“ genommen und war auf dem Wege nach der Badeanstalt in Wilmersdorf.
Er ging langsam und behaglich und benutzte die Gelegenheit, sich von den baulichen Veränderungen hier draußen zu überzeugen. Dieses Interesse rührte noch aus der Zeit her, da er — wie er mit Stolz zu sagen pflegte — „selba jebaut, et aba wieda uffjejeben hatte. Warum? Weil man als Wirt zu ville Scheererei hat“ — pflegte er stets hinzuzusetzen. Seit Großvaters Tod hatte er sich übrigens den Titel „Vizewirt“ zugelegt, da ihn Herr Lemke mit den polizeilichen An- und Abmeldungen der Mieter betraut und ihm auch hin und wieder in kleinen Angelegenheiten Vollmacht erteilt hatte. „Und dieser Titel jenügt mir“, versicherte er oftmals, „ick jehöre, Jott sei Dank, nicht zu die Leite, die for sonne Eißalichkeiten sind!“
Die Inspizierung, die er vornahm, ließ an Gründlichkeit nichts zu wünschen übrig. Schon wenn er in der Potsdamer Straße aus der Tür trat, ging er stets erst hinüber auf die andere Straßenseite und musterte das Lemkesche Haus, als wollte er sehen, ob es gegen die Neubauten ringsum auch noch standhalten könnte.
Und es hielt stand, nicht nur wegen des schönen braunen Anstrichs, den Herr Lemke auf Onkel Karls Veranlassung im Frühjahr hatte machen lassen, sondern weil es von solider, tüchtiger Bauart war — man sah sofort, daß kein Stuck, kein künstlicher Marmor blenden sollte, selbst wenn es mit seinen beiden kleinen Vorgärten gegen die neuen Mietskasernen etwas altmodisch auf den ersten Blick anmutete.
Und wenn er dann weiterging, sah er mit sehr kritischen Blicken die Veränderungen an, die im Laufe der letzten Jahre hier draußen, im Westen Berlins, entstanden. Nur an stillen Sonntagsnachmittagen hörte er jetzt noch die Glocken der Zwölfapostelkirche bis nach der Potsdamer Straße dringen, auch der Pfiff der Lokomotiven von dem Bahnkörper in der Dennewitzstraße war nur in Sommernächten, wenn die Fenster offenstanden, noch vernehmbar. Die Häusermauern fingen ihn auf, die Bülowstraße war ja nun schon längst bis zur Yorckstraße bebaut und vom Nollendorfplatz — zu des „ollen Lemkes“ Zeiten noch ein Müll- und Schuttabladeplatz — zog sich jetzt mit ihren eleganten, stattlichen Gebäuden die Kleiststraße als Fortsetzung der Bülowpromenade.
Wie oft hatte er hier gestanden und zugesehen, wenn der rote Sonnenball hinter dem Joachimsthalschen Gymnasium verschwand und der westliche Himmel sich dann langsam mit fahlem Gelb färbte. Nun war die freie Aussicht über die Schöneberger Wiesen verbaut, wenn sich auch hinter den vier- und fünfstöckigen Mietskasernen noch Reste der Wiesenflächen mit verkümmerten alten Weidenbäumen befanden.
Onkel Karl stampfte weiter, endlich kam er doch noch auf freies Terrain. Dort drüben lag die „rote Villa“, die man sonst schon von weitem einsam im Wiesengrün gesehen, ein Stückchen weiter, und er kam auf die Kaiser-Allee, und nun ging es geradeaus unter dem schattigen Blätterdach der Bäume nach dem großen Gartenetablissement am Wilmersdorfer See. Er schlug den kürzeren, etwas sumpfigen Weg durch das Erlenwäldchen ein, roch schon von weitem mit Behagen den eigentümlichen Brettergeruch, den der Wind von den Holzgebäuden der Badeanstalt herübertrug und lauschte auf das laute, taktmäßige Zählen der Schwimmeister. „A—ins — zweidrei! A—ins — zweidrei!“
Vorn am Eingang ließ er seine Passepartoutkarte abknipsen, nickte dem „Oberschwimmeister“ vertraulich zu und erhielt auch trotz des großen Andrangs eine freie Zelle, in der er sich auskleiden konnte.
Dann erschien er, die rote Badehose prall am Leibe, inmitten des Gewimmels und kühlte sich als vorsichtiger Mann erst durch eine Promenade in den Gängen der Badeanstalt ab. Trotzdem alle eigentlich mit sich selbst beschäftigt waren, begann er doch bald die allgemeine Aufmerksamkeit zu erregen. Leute, die eben noch — wenigstens nach ihrer Ansicht, mit voller Berechtigung gespuckt und geschrien, Horden von Jungen, die im Chor einen ohrenbetäubenden Lärm vollführt hatten, wurden plötzlich stumm und sahen verblüfft hinter Onkel Karl her. Ja, ein kleiner Knabe, der eben die Absicht hatte, mit einem Stück Seife ins Bassin zu steigen und sich dort, trotzdem es verboten war, gründlich abzuseifen, warf bei Onkel Karls Näherkommen ängstlich das Stück Seife ins Wasser und wurde dafür, weil sich die Oberfläche nun trübe färbte, von seinen Freunden später gelyncht.
Dieses außerordentliche Aufsehen, an das Onkel Karl übrigens gewöhnt zu sein schien und das er daher mit großer Gelassenheit ertrug, verdankte er der etwas unheimlich anmutenden Tätowierung auf seinem Oberarm — einer Schlange, die von einem Pfeil durchbohrt wurde —, aber mehr wohl noch dem Totenkopf, der in natürlicher Größe als Emblem auf der Kehrseite seiner Badehose eingestickt war, und der bei jeder Bewegung Onkel Karls höhnisch zu grinsen schien.
Es konnte nicht ausbleiben, daß man Onkel für den Favoriten der Badeanstalt hielt, dessen Erscheinen stets das Ereignis des Tages bildet, den zu grüßen sich jeder als Ehre anrechnet. So hatte er bald einen großen Schweif von Bewunderern hinter sich, die mit heimlichem Grauen den Totenkopf betrachteten und sich allerlei Geschichten von dem Träger dieses fürchterlichen Abzeichens zuflüsterten: Er sollte angeblich früher „bei die Totenkopphusaren jestanden haben“, wenn er ins Wasser gehe, das Sprungbrett verachten und sich immer vom „Turm“ kopfüber in die Flut stürzen. Ein anderer wußte, daß Onkel Karl vorzüglich tauchen könne und selbst ein ins Wasser geworfenes Hemdenknöpfchen unfehlbar vom Grunde des Sees wieder heraufbringe. Und ein anderer konnte sich gar erinnern, daß er im vorigen Jahr einmal gesehen, wie der „Totenkoppträger“ im vollen Anzug, dessen Taschen noch