Leitend für unsere Auseinandersetzung und Aufbereitung ist unsere Kritik an Überlegungen, Zwang als – zumindest unter bestimmten Bedingungen – »wohltätig« oder »entwicklungsfördernd« (z. B. Ethikrat 2018; Baumann 2019) zu verharmlosen oder Zwangskontexte als aussichtsreiche Ausgangssituation für Veränderungen zu fassen (Zobrist/Kähler 2017, S. 126). Gleichzeitig lassen sich diese und lässt sich der Zwang in der Sozialen Arbeit nicht ignorieren oder beschönigen. Zwang in der Sozialen Arbeit muss klar benannt und reflektiert werden. Obwohl das so ist, vertreten wir eine Fachlichkeit, die Zwang schon immer als Problem und nicht als Hilfe oder Unterstützung, dagegen stets als Hindernis und nicht als Ermöglichung gesehen hat. Erst Mitwirkung erzeugt den Erfolg, wie schon Alice Salomon als die Begründerin der modernen Sozialen Arbeit wusste: »Niemand kann für einen anderen leben oder sterben« (1926/2008, S. 84).
In der Sozialen Arbeit geht es um Emanzipation und Eigeninitiative, um Aneignung und Teilhabe, nicht um die Anwendung von Zwangsmitteln. Zwang bleibt in jeder Form ein Stachel im Fleisch einer reflexiven Sozialen Arbeit.
2 Zwang – Worüber reden wir?
In diesem Kapitel zeigen wir Ihnen die Allgegenwärtigkeit von Zwang. Zwang, ›weit‹ gefasst, ist erst einmal nichts zu Vermeidendes, Gefährliches oder gar Böses. Er ist ganz im Gegenteil unvermeidbar und hilft uns dabei, den Alltag zu bewältigen. Wir alle halten uns an Regeln, ohne dass wir uns darüber groß verständigen müssen, denn dann gäbe es jedes Mal ein großes Chaos. Diese Regeln haben wir verinnerlicht. Deshalb bedarf es normalerweise auch keines ausdrücklichen fremden Zwanges, sondern wir können uns auf einen in uns liegenden Selbstzwang verlassen. Wir sprechen daher in Anlehnung an Norbert Elias auch von einem »Zwang zum Selbstzwang«. Diesen Zwang, aber auch den von anderen gesetzten Fremdzwang, der noch die begrenzte Möglichkeit zu eigenen Entscheidungen lässt, als Handlungsoptionen ermöglicht, nennen wir »weiten Zwang«, weil er eben überall ist. Davon grenzen wir den »engen Zwang« ab. Dieser reduziert die Handlungsmöglichkeiten der Zwangsunterworfenen auf null. Um diesen geht es uns vor allem, denn wie weit wir »engen Zwang« ausüben, bestimmen wir ganz überwiegend selbst. Er ist nicht überall, sondern wird durch unsere eigenen Entscheidungen geschaffen. Wir haben Gestaltungsspielraum beim engen Zwang. Diesen Gestaltungsspielraum wollen wir in allen weiteren Kapiteln ausloten. Mit den folgenden Begriffsbestimmungen und drei Beispielen aus der Praxis Sozialer Arbeit bereiten wir dies vor. Auf diese begriffliche Grundlegung greifen wir dann in allen weiteren Kapitel zurück.
2.1 Überall ist Zwang
Täglich stehen wir vor unzähligen Entscheidungen und Handlungen. Wir sind gezwungen, die Tür zu öffnen, wenn wir ein Haus betreten. Wir sind gezwungen, eine Fahrkarte zu kaufen, wenn wir mit der Bahn fahren. Wenn wir wollen, dass eine Mieterhöhung zurückgenommen wird, sind wir gezwungen, mit dem Vermieter zu verhandeln oder das Rechtssystem zu bemühen. Zwar können wir auch die Tür eintreten oder das Haus nicht oder unbequem durch das Fenster betreten. Wir können auch Schwarzfahren oder zu Fuß gehen. Wir können Vermieter verprügeln oder die Mieterhöhung zähneknirschend akzeptieren. Aber wir treten nicht die Tür ein, wir verprügeln nicht unsere Vermieter. Irgendeine geheime Macht scheint uns davon abzuhalten. Nun, so geheim ist sie auch wieder nicht: Wir wollen keinen Ärger wegen Sachbeschädigung und wir wollen keine Strafanzeige wegen Körperverletzung – und vor allem halten wir solche Handlungsweisen für unangemessen. In der Situation selbst wägen wir das aber nicht bewusst ab. Wir tun es eben nicht. Es gehört sich nicht. Es führt zu nichts – oder allenfalls zu neuen Konflikten.
Diese Beispiele für alltägliche Zwänge zeigen, wie weit der Begriff »Zwang« gefasst wird: Zwang bezeichnet so verstanden materielle, soziale oder zwischenmenschliche Einschränkungen der Entscheidungsfreiheit und Handlungsmöglichkeiten, unabhängig davon, ob diese Einschränkung jeweils beabsichtigt ist oder nicht (Wolf 2008, S. 93). Diesen Einschränkungen unterwerfen wir uns auch unabhängig davon, ob wir den Zwang überhaupt bemerken. Der Soziologe Norbert Elias führt als Grund dafür »Interdependenzen« an. Das Wort meint, dass wir gegenseitig aufeinander angewiesen sind und in dieser Angewiesenheit voneinander abhängen. Interdependenzen unterliegen wir, und sie verbinden uns zugleich. In unserer Angewiesenheit aufeinander müssen wir unser Handeln und vor allem die damit verbundenen Affekte beständig kontrollieren, denn »das Verhalten von immer mehr Menschen muss aufeinander abgestimmt, das Gewebe der Aktionen immer genauer und straffer durchorganisiert sein« (Elias 1976/1991, Bd. 2, S. 317). Und diesem Angewiesensein aufeinander können wir nur entsprechen, wenn wir uns in dem komplizierten Gewebe der menschlichen Aktionen beständig unter großer innerer Anspannung ›richtig‹ verhalten, unsere Triebe und Affekte kontrollieren. Denn die »Hauptgefahr, die hier der Mensch für den Menschen bedeutet, entsteht dadurch, dass irgendjemand inmitten dieses Getriebes seine Selbstkontrolle verliert« (ebd., S. 319). Aus dem zwischenmenschlichen Fremdzwang – »Mach, was ich Dir sage« – wird so ein viel wirkungsvollerer Selbstzwang – »Ich mache es von mir aus, niemand muss es mir sagen.«
Wir bewegen uns in unserem Sozialen Raum beständig in einem Kräftefeld, das wir gemeinsam mit den anderen erzeugen, die sich in diesem Raum befinden. Das ist sehr anstrengend, weil wir immer darüber zu wachen haben, ob wir nun zu viel oder zu wenig Kraft entfalten, wenn wir unseren Beitrag zu dem Gleichgewicht in diesem Kräftefeld leisten. Das ist ein Gedanke von Pierre Bourdieu. Er hat den Sozialen Raum als ein Kräftefeld bezeichnet, »als ein Ensemble objektiver Kräfteverhältnisse, die allen in das Feld Eintretenden gegenüber sich als Zwang auferlegen und weder auf die individuellen Intentionen der Einzelakteure noch auf deren direkte Interaktionen zurückzuführen sind« (Bourdieu 1985, S. 10). Wir können niemals irgendetwas tun, ohne uns auf andere zu beziehen und ohne dabei ungeschriebene Gesetze einzuhalten, wie der Volksmund sagt, der damit Elias und Bourdieu zustimmt. Für diese ungeschriebenen Gesetze, gerne auch als Selbstverständlichkeiten bezeichnet, gibt es unzählige Beispiele: Wer eine wissenschaftliche Hausarbeit schreibt, muss andere Autor*innen zitieren, wer einen Antrag bei einer Behörde stellt, muss dies schriftlich tun, wer in den Raum einer ihm unbekannten Person eintritt, muss vorher anklopfen und die Einladung abwarten.
Diese Beispiele zeigen deutlich, dass es sich mit dem Zwang gar nicht so offen verhält, wie vielleicht anfangs gedacht, etwa: »Jemand sagt mir, was ich tun muss, und wenn ich es nicht tue, dann kann er mich zwingen.« Sondern eher so: »Ich bin vernünftig und sehe, dass ich selbst bestimmte Wege einhalten und bestimmte Formen wahren muss, um zu meinem Recht zu kommen. Alles andere wäre dumm von mir.«
Zwang wird, obwohl wir gerade auf den durch die gegenseitige Abhängigkeit entstandenen und daher eher unbemerkten Zwang hingewiesen haben, meistens als eine konkrete Einwirkung gefasst. Das können innerpsychische Zwänge (Zwangsstörungen, Zwangshandlungen) sein oder Einflussnahmen von außen, etwa Zwangsarbeit oder Zwangsgeld. Dies sind enger definierte und negativ besetzte Begriffe. Auch die im Duden zuvorderst