Für unseren Blick auf den Zwang in der Praxis der Sozialen Arbeit ist vor allem bedeutsam, dass Soziale Arbeit als staatlich regulierter und finanzierter Eingriff in das Leben anderer Menschen sehr häufig mit Zwang (im weiten Sinne) verbunden ist. Dies zeigen Schätzungen zur Relevanz von Zwangskontexten bzw. nicht freiwilligen Kontaktaufnahmen, die zwischen zwei Dritteln und 90 % schwanken (Zobrist/Kähler 2017, S. 19). Mit dem Zwangskontext kommt der Zwang in die Soziale Arbeit und überschattet als »initiale[r] Zwang den gesamten Hilfeprozess« (Schwabe 2008, S. 31). Der Zwangskontext öffnet die Tür für den weiten und den engen Zwang in der Praxis der Sozialen Arbeit selbst.
Über die Zwangskontexte selbst kann das Fachpersonal in der Alltagspraxis meist keine Entscheidungen treffen. Sowohl das Drängen des informellen Netzwerks als auch der rechtliche Rahmen sind ihrer unmittelbaren Gestaltungsmöglichkeit entzogen. Gleichwohl rahmen Zwangskontexte die Praxis, ohne sie jedoch zu bestimmen: »Nicht in allen Zwangskontexten wird ›Zwang‹ im engeren Sinne ausgeübt« (Zobrist/Kähler 2017, S. 14), wie wir in unserem dritten Beispiel anhand des gemeinsamen Kochens in einer Wohngruppe deutlich gemacht haben (
Exkurs 2: Zwang und Zwangskontexte im Fachdiskurs – Differenzierungen und Unschärfen
Diese Definition von Zwangskontexten erscheint uns auch deshalb notwendig, weil die Begriffe Zwang und Zwangskontext in den aktuellen Debatten um die Legitimität von Zwang in der Sozialen Arbeit teilweise unscharf verwendet werden (bspw. EthikJournal 2/2015: »Soziale Arbeit in Kontexten von Zwang«). Zum Teil werden nur die Zugänge zur Sozialen Arbeit als Zwangskontext gefasst, die auf engem Zwang beruhen, also wenn »konkrete Einzelne (von Dritten) dazu genötigt werden, bestimmte Lebensumstände zu erdulden und/oder bestimmte Handlungen zu vollziehen bzw. zu unterlassen« (Kaminsky 2015, S. 6). Zum Teil werden die Begriffe Zwang, Zwangsmaßnahmen und Zwangskontexte nicht klar voneinander abgegrenzt und auch organisatorische Rahmenbedingungen und Settings als Zwangskontexte bezeichnet. So argumentieren Zobrist und Kähler (2017) in der dritten Auflage ihrer Auseinandersetzung mit Sozialer Arbeit in Zwangskontexten für eine Ausweitung des Begriffs »Zwangskontext« auf institutionelle Settings, um »Zwangskontexte von Zwang im engeren Sinn abzugrenzen« (ebd., S. 14).
Die mit dieser Ausweitung verbundene Unschärfe lässt sich am Beispiel der Freiheitsentziehung in der Kinder- und Jugendhilfe verdeutlichen. So kann zunächst sowohl die Genehmigung einer Freiheitsentziehung und die Zuweisung eines Platzes in einer geschlossenen Einrichtung als Zwangskontext gefasst werden: als unfreiwilliger Zugang zu einer Maßnahme der Sozialen Arbeit. Dies entspricht dem oben ausgeführten Begriff. Andererseits könnte gemäß dieser Definition auch der Freiheitsentzug selbst als Zwangskontext für die darin lebenden jungen Menschen wie für die darin tätigen Professionellen gefasst werden – als Kontext, der die konkreten Interaktionen und den Alltag rahmt. Letzteres bezeichnen wir jedoch nicht als Zwangskontext, sondern als strukturellen Zwang (
Wir sprechen von Zwangskontext daher ausschließlich mit Blick auf den Zugang zu Sozialer Arbeit, also die mehr oder minder freiwillige Inanspruchnahme (weiter Zwang) oder die erzwungene Inanspruchnahme (enger Zwang). Die institutionelle und organisatorische Ausgestaltung fassen wir davon unabhängig als strukturellen Zwang (der ebenfalls eng oder weit sein kann).
Goffman, Erving (1994): Interaktionsrituale. Über Verhalten in direkter Kommunikation. Frankfurt/Main: Suhrkamp
Widersprüche, Heft 113 (2009): Grenzen des Zwangs? Soziale Arbeit im Wandel. Münster: Westfälisches Dampfboot
Zobrist, Patrick/Kähler, Harro Dietrich (2017): Soziale Arbeit in Zwangskontexten – Wie unerwünschte Hilfe erfolgreich sein kann (3., vollständig überarbeitete Auflage). München, Basel: Reinhardt
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