Roland Benito stand auf dem Bürgersteig, legte den Kopf in den Nacken und schaute zum vierten Stock des Gebäudes hoch. Dann ließ er den Blick auf der gleichen Route, der der Körper gefolgt war, wieder nach unten gleiten. Zwanzig Meter freier Fall. Der Tote war in einem Krankenwagen ohne Sirene weggefahren worden, aber dort, wo das blutige Gewebe des Körpers auf den harten Beton der Pflastersteine getroffen war, befand sich immer noch ein rostroter Fleck.
„Ich hasse diese Art von Einsätzen“, bemerkte Mark Haldbjerg hinter ihm. Roland drehte sich um und sah seinen Kollegen an.
„Sind die Beamten immer noch hier oder wollen sie sich nicht äußern, bis ihre eigenen Anwälte vor Ort sind?“, erkundigte er sich.
Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte hatte darauf hingewiesen, dass in Fällen, in denen eine Person in Folge eines Eingreifens der Polizei zu Tode gekommen war, Forderungen nach einer zügigen Aufklärung des Vorfalls gestellt werden durften. Nicht allein um herauszufinden, ob es eine Grundlage für eine strafrechtliche Verfolgung des oder der betreffenden Polizeibeamten gab, sondern auch, damit die Polizei und andere aus dem Vorgang lernen konnten. Ermittlungschef Viktor Enevoldsen hatte ihnen sehr deutlich die Verantwortung „Der Unabhängigen Polizeibehörde” dabei bewusst gemacht, aber oft war eine schnelle Vernehmung der involvierten Beamten nicht möglich, weil sie einen bestimmten Anwalt wünschten, der gerade nicht zur Verfügung stand. Oft erst mehrere Tage später. In früheren Fällen hatte das Kritik an der Behörde ausgelöst, dass die Angeklagten die Möglichkeit gehabt hätten, vor der Vernehmung miteinander zu reden und dabei den Verlauf der Ereignisse abzusprechen.
„Sie sind noch hier und bereit zur Befragung. Beide ziemlich erschüttert, verständlicherweise. Lass uns hochfahren. Da ist der Aufzug.“
Roland nickte zufrieden, besonders angesichts der letzten Information. Er hatte gestern Abend mit seiner Enkelin Tennis gespielt und spürte das nun deutlich in den Oberschenkel- und Armmuskeln. Treppensteigen in den vierten Stock ließ er lieber bleiben. Vielleicht war das auch ein ungerechter Kampf zwischen einem untrainierten Mann mittleren Alters und einem jungen Teenagermädchen, aus seiner Perspektive gesehen natürlich, aber sie hatten sich beide amüsiert und er war Marianna näher gekommen, die sonst zur Zeit mit den meisten Erwachsenen im Clinch lag.
„Ich habe erfahren, dass der Tote ein Justizvollzugsbeamter ist“, sagte Mark im Aufzug auf dem Weg nach oben.
„Und er ist einfach gesprungen, ohne dass die Beamten es verhindern konnten?“
„Anscheinend.“ Mark zuckte die Schultern, gleichzeitig glitten die Aufzugtüren auf. „Keiner weiß, was zum Teufel passiert ist.“
„Das finden wir heraus, Mark. Wir müssen klären, ob die beiden Beamten irgendeine Schuld an der Tragödie trifft.“
Mark nickte. Eine alte Dame in einem gemusterten Schlafrock neben einem jüngeren Mann, der seine Brille richtete, als sie versuchten vorbeizukommen, drückte ihre Arme.
„Ich bin eine Nachbarin. Ich habe angerufen …“, erklärte die Frau und trippelte ungeduldig mit den Füßen, die in Wollsocken steckten.
„Gehen Sie in Ihre Wohnung und warten Sie dort. Wir kommen gleich und unterhalten uns mit Ihnen“, versicherte Mark und führte die Frau freundlich zur Tür der Nachbarwohnung.
„Ich wohne weiter oben“, erklärte der junge Mann und deutete auf die Treppe. „Ich wollte nur sehen, was hier los ist, weil ich von meinem Fenster aus das Polizeiauto gesehen habe.“
Roland und Mark gingen durch die bereits offene Tür in die Wohnung des Vollzugsbeamten. Sie war spärlich möbliert mit etwas, dass nach Erbstücken oder Flohmarktfund aussah. Roland nickte dem jungen Mann, der neugierig im Treppenhaus stehen blieb, abweisend zu und schloss die Tür hinter sich. Der eine Beamte lehnte an der Wand, direkt neben dem anderen, der auf dem Bett saß und total geschockt aussah.
„Wir übernehmen jetzt die Ermittlungen“, ließ Roland die beiden Kriminaltechniker wissen, die im Hintergrund bereit standen. Sie nickten.
„Ich habe sie dazugerufen“, sagte der an der Wand. Er stieß sich ab und reichte ihm die Hand. „Jørgen Mose.“
Der Beamte auf dem Bett hieß Leif Skovby. Roland hatte Skovby schonmal getroffen, als er ebenfalls noch für die Ostjütländische Polizei gearbeitet hatte. Er schüttelte entsetzt den Kopf.
„Wir haben gar nichts gemacht. Er war schon aus dem Fenster gesprungen, als wir hereinkamen“, murmelte er. Jørgen Mose bestätigte das mit einem Nicken.
Mark sah Roland vielsagend an. Es wäre den beiden Beamten bereits möglich gewesen abzusprechen, was sie sagen sollten und sich gegenseitig zu decken, falls ihr Eingreifen nicht ganz nach Vorschrift erfolgt sein sollte. Und das war es ja anscheinend nicht, wenn das Ergebnis ein Todesfall war.
„Berichten Sie von Anfang an“, forderte Roland ihn auf.
„Es gab eine Beschwerde wegen Lärms in der Wohnung. Wir waren gerade in der Nähe auf Streife, daher haben wir uns beeilt, aber als wir ankamen, war er schon gesprungen. Es gab keinerlei Anzeichen für eine Schlägerei, wie Sie sehen können, und es waren keine weiteren Personen in der Wohnung.“
Roland ließ den Blick durch die Wohnung schweifen, die ungewöhnlich aufgeräumt war. Es sah fast aus, als wäre das Wohnzimmer gerade renoviert worden und er bemerkte einen schwachen Geruch nach neuer Farbe.
„Wie ist der Name des Toten?“, fragte Mark.
„Er hieß Julius. Julius Habekost.“
*
Bertram setzte sich an den Schreibtisch und klappte vorsichtig seinen Laptop auf, als ob er fürchtete, dass Monster aus ihm herausströmen würden.
Er hatte das Ganze nicht nur geträumt. Der Link war immer noch da und als er sich auf der schwarzen Seite einloggte, war auch das Video da. Er klickte nicht auf den weißen Pfeil. Stattdessen betrachtete er ein neues Foto, das neben dem nächsten Namen auf der Liste erschienen war. Vivian Elsted. Eine Frau mit kohlschwarzem Pagenschnitt. Sah spanisch aus. Ihr Blick und der Zug um ihren Mund mit viel rotem Lippenstift hatten etwas Autoritäres. Sie erinnerte an eine Schauspielerin. Plötzlich lächelte Bertram und schlug sich an die Stirn. Natürlich! Das Ganze war sicher bloß gespielt. Erleichterung durchflutete ihn und er wollte laut lachen. Auf so etwas hätten sie auch selbst kommen können. Die Raben. Sie hatten mal darüber gesprochen, als es gerade in gewesen war, Verkehrsunfälle zu filmen und die Bilder der Opfer bei YouTube zu posten. Damit kriegte man richtig viele Klicks, die Clips wurden geteilt und, wie Felix gesagt hatte, konnte man ja nicht wissen, ob die Videos echt waren. Jetzt war diese Vivian die Nächste, die die Aufgabe hatte, irgendeinen unheimlichen Eintrag zu posten. Aber warum war das dann ein geheimes Netzwerk, wenn es darum ging, Klicks zu generieren? Logischerweise, damit man es nicht missverstand, wie Bertram gerade. Vielleicht war das eine kleine Gruppe. Wie sie selbst. Wie die Raben. Er lächelte wieder, schüttelte den Kopf über seine eigene Dummheit und fuhr den Computer runter. Dann ging er ins Bad.
Eva Maja schlief noch. Die Schlafzimmertür stand offen. Sie lag auf der Seite, das eine schlanke Bein über der Decke, an die sie sich klammerte, als würde sie sich an einen Mann kuscheln. Ihre Haut war hell. Auf ihren Armen waren Sommersprossen. Keine blauen Flecken, nur eine schwarze keltische Tätowierung auf der einen Schulter. Sie hatte tolle Brüste für ihr Alter. Schnell schaute er weg, beeilte sich, die Tür zu schließen und ging in die Küche, während er lautstark gähnte. Nicht der Hunger trieb ihn hierhin. Morgens war er nie hungrig. Er konnte problemlos bis Mittag warten, wo er normalerweise aufstand und mit den anderen zusammen einen Burger bei McDonalds aß. Aber er konnte nicht mehr schlafen und beschloss, Eva Maja als Entschuldigung für gestern Abend Kaffee zu machen. Jetzt bereute er, ihre gute Laune ruiniert zu haben, indem er den Gruß des Hehlers von seinem Vater ausgerichtet hatte. Es war eine ungeschriebene Regel, dass sie nicht über ihn sprachen. Nie. Wer wusste, ob das mit diesem Gruß stimmte? Hatte der Hehler ihn überhaupt im Gefängnis besucht? Bertram hatte nicht mal gewusst, dass sie sich kannten.
Die Zeitung landete