Helena ist traurig, das kann ich sehen. Oder vielmehr zermürbt, genau wie ich auch. Sie tröstet mich, berührt mich, gibt mir mit ihrer Anwesenheit Nähe, aber sie kann eines nicht zurückbringen – mich.
Wütend macht sie das auch. In ihren Augen schimmern Erwartungen, die ich nicht erfüllen kann. Anscheinend waren wir so etwas wie Freunde.
Offensichtlich kann ich aber nichts dafür, dass ich mich an die letzten drei Jahre meines Lebens nur spärlich – oder besser gesagt, gar nicht – erinnern kann. Ist ja nicht so, als würde es mir Spaß machen, hin und wieder eine gegen den Latz geknallt zu kriegen.
Plötzlich durchfährt mich ein Zittern. Scheiße. Was ist, wenn ich mich nie wieder erinnern kann?
Der Gedächtnisverlust reicht aber nicht. Da wäre auch noch die Winzigkeit, dass ich in die Gehirne anderer Menschen dringen kann!
»Halt die Klappe!«
Ich beiße die Zähne aufeinander. »Sorry.«
»Du kannst Leute deine Gedanken mithören zu lassen. Glaub mir, das ist nicht nur für dich belastend«, fügt sie murmelnd hinzu, ehe sie sich erhebt. »Streng dich doch mal an!«
»Ich versuch’s.«
»So fest kannst du dir den Kopf ja gar nicht gestoßen haben«, murmelt sie und verdreht die Augen. »Es ist jetzt schon einen Monat her.«
Für einen kurzen Moment schließe ich die Augen. Meine Traurigkeit nimmt mein schlechtes Gewissen an die Hand, und wenn sie so ihrem aufflackernden Zorn gegenüberstehen, werden die beiden – ich nenne sie insgeheim Flint und George – zu einem riesigen, fetten Klumpen Wut. »Ich wollte Chris retten, verdammt.«
»Crys. Sie heißt Crys, und wir glauben, dass du sie retten wolltest. Immerhin kannst du uns ja nicht sagen, was wirklich passiert ist.«
Touché.
Ihre Augen funkeln, als würde sie mich am liebsten schlagen. Auf den Kopf. Wär gar nicht mal so schlecht, vielleicht macht das ja den Gedächtnisverlust rückgängig. Oder den schrecklichen Zufall, dass ich hier gelandet bin. Oder mein ganzes Leben. Naja, am besten nur den unangenehmen Teil.
Ich wende mich von Helena ab, starre wieder auf den Fernseher. Nehme die Fernbedienung, schalte ihn ein, aber ohne Ton. Meine Lippen bewegen sich noch immer. Lächeln so überheblich, wie der Triumph aus meinen Augen trieft. Und ich kann sehen, dass ich andere beeindruckt habe.
Der Moderator wirft lachend den Kopf in den Nacken, bevor sie die Kamera von meinem zufriedenen Grinsen auf die Zuschauer schwenken, die mich anhimmeln. Wie einen Eisbecher mit extra Streusel oben drauf.
Helena bewegt sich nicht, ich bewege mich nicht, wir sitzen nebeneinander und ich stelle mir vor, dass die Vulkane in unseren Inneren, die zum gleichen Feuerring gehören, langsam wieder zu Stein werden und die Flammen in sich begraben.
»Ich weiß nur mehr, dass ich Gitarre gespielt habe.« Meine Stimme ist ruhig, als ich nach ein paar Minuten schaffe, nicht gleich wieder loszubrüllen. »Oft. Lange. Da war auch eine Bühne. Riesig, unter freiem Himmel. Aber ich habe keine Ahnung, ob jemand da war.« Mein Ton ist zu einem Flüstern herabgefallen.
Gleich am Anfang meiner Karriere – die letzten paar Wochen, an die ich mich noch erinnern kann – hat Rich mir gesagt, ich solle nie mehr flüstern, um die Stimme zu schonen. Aber in letzter Zeit bleiben mir oft die Worte weg. Oder zumindest finde ich nicht die Kraft, sie laut auszusprechen. Und das macht mir Angst. Denn ich verbringe bereits Wochen damit, mir Tag für Tag Videos über mich anzusehen. Live-CDs mit dem verstaubten Gerät anzuhören, das einmal Helenas Mutter gehört hat. Aber ich finde mich nicht. In keiner Sekunde Filmmaterial. In keinem Ton, nicht mal in meinen eigenen Texten.
Ich blinzle ein paarmal. Irgendjemand hat mal zu mir gesagt, dass ich nicht weiß, was ich mit mir anfangen soll. Doch wenn das damals schon der Fall war, wie soll ich dann jetzt klarkommen?
»Die Frage lautet eher – wer war nicht da?« Helena schüttelt den Kopf, und der saure Ausdruck in ihrem Blick verschwindet. »Alle, die keine Karte bei deinen vier ausverkauften Konzerten im Wembley Stadion gekriegt haben, haben sich ganze zwei Stunden nicht vom Fernseher wegbewegt, um dich sehen zu können.« Nach einer kurzen Pause fügt sie hinzu: »Für weniger als siebzig Pfund pro Person.«
Bevor ich mich noch darüber wundern kann, dass jemand tatsächlich so viel in Kriegszeiten hingeblättert hat, um meine Visage live schwitzend zu sehen, lässt uns beide ein Krachen in die Höhe fahren.
Die Tür schlägt zu, und nach einer winzigen Sekunde, in der uns Helena und ich erschrocken ansehen, lockt uns heftiges Atmen in den Flur. Ich schlinge die Arme um mich und kralle die Finger in die Ärmel meines roten Sweatshirts, während ich Helena folge.
»Scheiße, Cam!«, zischt sie. Beinahe krache ich in sie hinein, weil sie mitten in der Tür stehen bleibt. »Wieso musst du immer den verdammten Küchentisch vollsauen!«
Oh, das schon wieder. In den letzten Wochen zieht Cam ständig solche Nummern ab. Er blutet in das Waschbecken im Bad oder hinterlässt rote Flecken auf der Türmatte. Graf Dracula hätte seine Freude.
Die Kapuze seines schwarzen Pullovers bis über den Kopf gezogen, stützt Cam sich auf den alten Tisch.
Kopfschüttelnd nehme ich den Erste-Hilfe-Kasten entgegen, den Helena aus dem Badezimmerschrank geholt hat, und setze mich zu ihm an dem Tisch. »Du kannst echt froh sein, dass ich das nicht vergessen habe.« Ich ziehe seinen Arm sanft zu mir heran und sehe mir das Massaker aus der Nähe an. Irgendetwas rührt sich in mir. Splitter … Ich runzle die Stirn und luge Möchtegern-Obdachloser an.
Cameron reagiert nicht. Sein flacher Atem macht mich irgendwie ganz hibbelig, und ich fuchtle mit der Hand zu einem der wackeligen Stühle. »Kannst du dich bitte setzen? Wenn du umkippst, muss ich dich Mund zu Mund beatmen.« Ich kann mir einen kurzen Seitenblick auf seine zerzausten, irgendwie zu langen Haare nicht verkneifen. »Bei dem Urwald, den du in deinem Gesicht züchtest, würde ich wahrscheinlich nicht mal deine sinnlichen Lippen finden.«
Er setzt sich, ohne weiter zu reagieren.
Nach einem tiefen Ein- und Ausatmen fange ich an, ihn zusammenzuflicken. So läuft das immer. Ich repariere Cameron. Helena hält sich schweigend im Hintergrund. Irgendwie schafft sie es immer, ihre Schimpftirade so lange für sich zu behalten, bis ich den Verband angelangt habe. Dann platzt es aus ihr heraus, und nichts kann sie mehr aufhalten.
Deswegen stähle ich mich innerlich schon gegen ihre hohe Stimme, die Cam ziemlich gemeine Dinge an den Kopf wirft, während ich die Mullbinde mit ein wenig medizinischem Klebeband befestige, damit sie nicht verrutscht. Glücklicherweise wurde das Blutbad doch nur von einem kleinen Schnitt verursacht, der dafür auf theatralischer Ebene alles gegeben hat.
Cams und mein Blick treffen sich. Das Schwarz seiner Pupillen glänzt matt. Wie wenig muss man schlafen, um solche Augenringe zu kriegen?
Er bricht die Verbindung ab und sieht dann Helena an, die mit verschränkten Armen an der Küchenzeile lehnt.
Aber sie bleibt still.
Schnell verstaue ich die Schere und den Rest des Verbandes in der kleinen Box. Anschließend wandert mein Blick in dieselbe Richtung wie Cams.
Mein Herz setzt kurz aus.
Anstatt Cameron nieder zu starren, liegen ihre graue Augen auf mir. Doch das ist es nicht, was mir das Blut in den Adern gefrieren lässt.
Stumme Tränen laufen über ihr blasses Gesicht.
Ich öffne den Mund, um etwas zu sagen, doch er bleibt mir offen stehen. Keine Ahnung, ob ich Helena schon jemals weinen gesehen habe. Aber irgendwie kann ich es mir nicht vorstellen. Das Mädchen mit der bösen Zunge versteckt ihre Traurigkeit hinter ihrer gefährlich großen Klappe. Und wenn ich mir den Zug um ihren Mundwinkel ansehe, dass wohl schon seit einer ganzen Weile.
Ich schließe die Augen. Nicht nur ich habe alles verloren.