Die Apokalypse ist nicht das Ende der Welt. Marie-Christin Spitznagel. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Marie-Christin Spitznagel
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783740973711
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zu unpraktisch. Sie hatte es schon mit künstlichen Fingernägeln versucht, um feminin zu wirken, aber durch den Sport und ihren Job waren sie so schnell abgebrochen, dass sie es nach drei Monaten wieder aufgab und alles Runterfeilen ließ.

      Alexandra schlürfte ihren Kaffee. Der Thermobecher wärmte ihre Finger ein wenig, sie hatte es nicht eilig nach Hause zu kommen. Lieber bog sie ab und machte einen kleinen Umweg. Die Querallee hinunter, die Goethestraße entlang und eine steile Nebenstraße hinauf, zurück zur Friedrich-Ebert-Straße. Dort kam sie an einer Reihe Häuser vorbei, an denen besonders schöne Stuckengel zu sehen waren. Wie immer, blieb sie stehen und betrachtete die Hausfassade. Während sie in die leblosen Gesichter blickte, wurde ihr plötzlich kalt. Das wohlige Gefühl, das sie sonst an dieser Stelle hatte, wollte sich einfach nicht einstellen. Etwas war anders. Es zog im Nacken und sie erschauerte. Jemand beobachtete sie. Genau spürte sie, wie Blicke sich förmlich in ihren Rücken bohrten.

      Doch als sie sich umdrehte, konnte sie nur das große Steingesicht in der Fassade des Hauses auf der anderen Seite erkennen, das an ihr vorbei blickte. Sie atmete tief ein und schloss die Augen. Töricht! Am hellen Tag in einer sicheren und wunderschönen Nachbarschaft überfielen sie plötzlich alberne Verfolgungsfantasien.

      Als sie die Augen wieder öffnete, setzte ihr Herz für einen Schlag aus. Der Fassadenengel starrte sie plötzlich direkt an! Während ihr Mund einen tonlosen Schrei formte, flüsterte er: «Komm mit mir!»

       5 Karla

      Sie hatte sich so weit auf dem Barhocker zurückgelehnt, wie sie konnte, ohne rücklings herunterzufallen, den Kopf in den Nacken gelegt und starrte an die Decke.

      «Nein, Alter. Keine Lust», sagte sie, als ob die Decke sie hören konnte.

      «Du bist doch sowieso hier, da kannst du auch mitarbeiten», beschwerte sich ihr Chef Gerald hinter der Theke. Tatsächlich war diese Aufforderung nicht ernst gemeint. Die Bar war fast leer.

      «Komm, du springst für mich ein, damit ich mir den Film mit den dicken Drag Queens angucken kann.»

      «Äh, lass mich kurz überlegen… Nein.»

      «Du bist so ein Dickschädel», Gerald grinste. Er hatte ihr schon oft gesagt, dass er ihren Sturkopf bewunderte, es klang immer eher wie ein Kompliment als ein Tadel.

      Karlas Eltern hatten sie auch schon früh als eigenwillig und dickköpfig beschrieben. Sie hatten das aber nie als Kompliment gemeint. Anderen gegenüber benutzen sie diese Aussage sogar als Entschuldigung, wenn Karla sich wieder unangemessen verhalten hatte, oder als Ausdruck ihrer Erschöpfung von einem Kind, das sie sich so ersehnt hatten - und das so anstrengend ausgefallen war.

      Karolina Böhme, wie ihr voller Name lautete, war inzwischen 29, doch immer das Nesthäkchen geblieben, die einzige Tochter nach drei Söhnen. Ihre drei Brüder waren mindestens fünf Jahre älter als sie und hatten dafür gesorgt, dass Karla nie das Prinzesschen werden konnte, das ihre Eltern sich so gewünscht hatten. Sie war laut, vulgär und konnte sich zur Not auch mit den Fäusten durchsetzen. Ihre Mutter hatte nie Hemmungen, ihr zu zeigen, wie enttäuscht sie deswegen war.

      Karla hatte lange mit ihrem mittleren Bruder Robert zusammen gewohnt. Unlängst war er zu seiner Freundin gezogen. Karla hatte ihn auf die Schulter geboxt und ihm gesagt, dass er ein Pantoffelheld sei. Danach hatte sie gelacht. Dabei meinte sie es ernst. Sie nahm es ihm übel, dass er sie für eine Tussi hatte sitzen lassen. Genau wie ihre anderen Brüder hatte er das Leben mit ihr eingetauscht für ein Spießerleben mit Frau und Altbauwohnung oder Häuschen auf dem Land. Sie hoffte, dass er sich bald einen Hund zulegen würde. Hunde machten alles besser.

      Gedankenverloren saß sie am Tresen einer kleinen Bar mit dem schrecklichen Namen ‹Haltbar›. Deren Besitzer Gerald fand sich selbst tierisch gut, dass ihm dieses dämliche Wortspiel eingefallen war. Zuvor hatte er einen Friseursalon geführt. Diese Bar in der Kasseler Nordstadt schien ihm attraktiver, nachdem er knallhart durchkalkuliert hatte, dass eine hippe Bar in einem stetig beliebter werdenden Studentenviertel lukrativer sein müsste als ein Friseursalon mit wegsterbender Kundschaft. Leider war Gerald nicht sonderlich gut in Mathe. Der ehemalige Besitzer der Bar hatte sie ihm zu einem Spottpreis überlassen. Dass es dafür einen Grund gab, hatte Gerald nicht bedacht. Die Bar war zu weit weg von anderen Locations, um Laufpublikum anzuziehen, die Anwohner in der Gegend betranken sich zumeist aus Geldmangel zu Hause. Und leider war aus der Nordstadt doch nicht das Kasseler Kreuzberg geworden. Das hatte sich im Süden um die Kunst Uni gebildet. Schade Schokolade. Zum Glück hatte Gerald wenigstens ein paar treue Stammkunden, und so war der Laden kein kompletter Reinfall.

      Der Fußboden der ‹Haltbar› bestand angeblich aus altem, abgewetztem PVC in Schachbrettoptik. Die vielen Jahre, in denen Menschen darauf getrunken, getanzt und diverse Körper- und andere Flüssigkeiten verteilt hatten, verliehen dem Boden inzwischen einen eher marmorierten Grauton. Es gab sogar Gerüchte, dass der Boden ursprünglich ein Teppich gewesen sein soll, Barhocker auf denen man zu lange saß, sanken buchstäblich in den Boden ein. Gerald hatte sich allerdings trotzdem dazu entschlossen, jeden Morgen feucht aufzuwischen. Auch die Farbe der Wände war schwer definierbar. Eine Mischung aus Grau und Schmutz, halb abgeknibbelten Aufklebern und alten Kaugummis. Nüchtern hatte man Hemmungen etwas anzufassen. Deshalb waren die meisten Menschen hier auch nicht nüchtern.

      Dennoch besuchte Karla die Kneipe regelmäßig samstagabends. Während der Woche arbeitete sie hinter der Theke, am Wochenende vertrank sie davor ihr halbes Gehalt. Ihre Brüder hatten sie das erste Mal mit hierher genommen. Ihr ältester Bruder Thomas hatte auch schon dort hinter der Theke gestanden und Karla dort den Job organisiert. Ihr Chef Gerald war 56, schwul und in einer langjährigen, wenigstens offiziell monogamen Beziehung. Da musste man als großer Bruder keine Bedenken haben.

      Auch wenn Karla sich nicht sicher war, warum, hatte sie sich heute richtig Mühe gegeben mit ihrem Outfit. Ein ‹Montreal Band› T-Shirt, von dem sie Ärmel und Kragen abgeschnitten hatte, schwarze Strumpfhosen mit strategisch platzierten Laufmaschen und einen Minirock zu schweren Lederboots. Sie hatte sich ihr Lieblingslied ‹Tag zur Nacht› von ‹Montreal› gewünscht, einer Punkrock Band aus Hamburg, und wiegte ihren Kopf im Takt mit.

       «Wir waren die letzten wie so oft

      Ich hab die Schulter, du den Kopf» Vor vier Jahren war sie mit ihren Brüdern auf einem kleinen Konzert dieser Band in Kassel gewesen. Die ganze Nacht war sie mit ihnen im Moshpit herum gesprungen und danach quer durch die Stadt zu einem Club gelaufen, weil sie das Geld für das Taxi lieber in Bier investieren wollte.

       «Es ist schon lange wieder hell

      Mir ging das alles viel zu schnell» Im Morgengrauen waren sie aus dem Club gestolpert, wieder durch die ganze Stadt gelaufen. Karla erinnerte sich daran, wie euphorisch sie gewesen war. Zusammen waren sie bis in die Wohnung, in der Karla damals mit ihrem ältesten Bruder Thomas wohnte, gelaufen, hatten sich unterwegs Döner-to-go gekauft und waren danach zusammen auf der Couch im Wohnzimmer eingeschlafen. An diesem Abend war Karla so glücklich gewesen wie nie davor oder danach in ihrem Leben.

       «Und wenn die Stadt langsam erwacht

       Machen wir den Tag zur Nacht»

      Zwei Wochen später war ihr ältester Bruder mit seiner Freundin zusammengezogen. Sein Zimmer hatte ihr mittlerer Bruder übernommen. Aber auch nur, bis dieser eine Frau gefunden hatte, mit der er zusammenziehen konnte. Sie vermisste ihre Brüder, die inzwischen alle mit abgeschlossenen Studien und sicheren Jobs auf Ehe und Kinder zusteuerten. Während sie sich weiterhin die Wochenenden um die Ohren schlug und in einer Kneipe arbeitete.

      Geistesabwesend strich sie sich eine ihrer widerspenstigen, roten Locken aus dem Gesicht und pulte weiter an einer Ecke des Etiketts ihrer Bierflasche. Sie war so in sich versunken, dass sie nicht bemerkte, wie sich Gerald über den Tresen zu ihr beugte. Erst als er ihr väterlich sanft über die Wange strich, blickte sie hoch und zog die sommersprossenübersäte Nase kraus.

      «Mensch Mädchen, was machst du denn schon wieder hier? Du solltest unterwegs sein und Spaß